Alte Fehler wiederholen? – Bezüglich Stalins Sicht auf den Klassenkampf im Sozialismus

Lernen und nicht denken ist nichtig. Denken und nicht lernen ist ermüdend.”1 – Konfuzius

Es war erst kürzlich, als ich meinen Artikel über die “Partei des ganzen Volkes” und den “Staat des ganzen Volkes” schrieb2. Interessanterweise erregte es Kritik, dass ich an Stalins falscher These vom Absterben des Klassenkampfes im Sozialismus Kritik geübt habe.

Worin bestehen die Punkte der Kritik? Sie bestehen darin:

  • dass die Sowjetunion 1936 alle Klassen beseitigt hätte und die Diktatur des Proletariats somit unnötig geworden wäre;
  • dass die enteigneten Ausbeuterklassen kein bürgerliches Klasseninteresse mehr besitzen würden;
  • dass der ideologische Kampf im Sozialismus kein Klassenkampf wäre, da die Bourgeoisie nicht mehr existieren würde.

Mit dem letzten Punkt war auch das Strohmann”argument” verbunden, dass dies nur funktioniere, wenn man die Definition einer Klasse ausweiten und somit verändern würde. Dies sei hier zwar angemerkt, aber auf diesen Strohmann werde ich mich nicht einlassen. Sollen die Kritiker auf diese Strohpuppe, die sie selbst geschaffen haben, einprügeln, wie es ihnen beliebt. Damit treffen sie weder mich noch meine ideologische Haltung.

Kommen wir zum ersten Vorwurf. Es ist interessant, dass in der Kritik nicht bloß die Rede davon war, dass die Ausbeuterklassen beseitigt worden wären, sondern die Klassen an sich. Das hat natürlich auch Stalin nicht behauptet.

In der sowjetischen Verfassung von 1936 (“Stalin-Verfassung”) heißt es in Artikel 1 eindeutig:

Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern.”

In Artikel 5 steht ebenso eindeutig:

Das sozialistische Eigentum in der UdSSR hat entweder die Form von Staatseigentum (Gemeingut des Volkes) oder die Form von genossenschaftlich-kolletivwirtschaftlichem Eigentum (Eigentum einzelner Kollektivwirtschaften, Eigentum genossenschaftlicher Vereinigungen).”3

Die Sowjetunion hatte also die Arbeiterklasse und daneben die Genossenschaftsbauern, welche Kollektiveigentum und nicht Volkseigentum zur Grundlage ihrer Wirtschaften hatten.

Die Diktatur des Proletariats war nicht unnötig geworden, das wusste Stalin auch. Er begründete dies primär mit der kapitalistischen Umkreisung und der damit verbundenen Gefahr der Restauration des Kapitalismus von außen. Er sagte dazu im Jahre 1939:

Die zweite Phase ist die Periode von der Liquidierung der kapitalistischen Elemente in Stadt und Land bis zum vollen Siege des sozialistischen Wirtschaftssystems und der Annahme der neuen Verfassung. Die Hauptaufgabe dieser Periode war die Organisierung der sozialistischen Wirtschaft im ganzen Lande und die Liquidierung der letzten Überreste der kapitalistischen Elemente, die Organisierung der Kulturrevolution, die Organisierung einer völlig modernen Armee für die Verteidigung des Landes. Dementsprechend veränderten sich auch die Funktionen unseres sozialistischen Staates. Die Funktion der militärischen Unterdrückung innerhalb des Landes kam in Wegfall – starb ab -, denn die Ausbeutung ist vernichtet, Ausbeuter gibt es keine mehr und daher auch niemanden, der zu unterdrücken wäre. Anstelle der Funktion der Unterdrückung erhielt der Staat die Funktion, das sozialistische Eigentum vor Dieben und Plünderern des Volksguts zu schützen. Die Funktion des militärischen Schutzes des Landes vor Überfällen von außen blieb völlig erhalten, es blieben folglich auch die Rote Armee, die Kriegsmarine, ebenso wie die Straforgane und der Abwehrdienst, die notwendig sind zur Aufdeckung und Bestrafung von Spionen, Mördern und Schädlingen, die von den ausländischen Spionagediensten in unser Land geschickt werden. Die Funktion der wirtschaftlich-organisatorischen und kulturell-erzieherischen Arbeit der Staatsorgane blieb erhalten und kam vollauf zur Entfaltung. Jetzt besteht die Hauptaufgabe unseres Staates im Innern des Landes in der friedlichen wirtschaftlich-organisatorischen und kulturell-erzieherischen Arbeit. Was unsere Armee, die Straforgane und den Abwehrdienst anbelangt, so ist nun ihre Spitze nicht nach dem Innern des Landes gerichtet, sondern nach außen, gegen die äußeren Feinde.”4

Intern war die Diktatur des Proletariats ebenfalls notwendig, aber Stalin erkannte sie nicht mehr an. Diese war nötig, um die enteigneten Ausbeuterklassen von der Restauration des Kapitalismus abzuhalten und kapitalistische Wegbereiter zu unterdrücken.

Damit wären wir beim zweiten Vorwurf angekommen.

Die enteigneten Ausbeuterklassen haben natürlich ein Interesse daran, ihre Herrschaft zu restaurieren, schließlich verloren sie ihre Klassenprivilegien und ihr Privateigentum. Der Prozess der Enteignung ist keine automatische ideologische Umerziehung. Restaurationsbestrebungen der gestürzten Klassen findet man überall in der Geschichte, oft in Form von konterrevolutionären Aufständen. Sollten sie keine Restaurationsbestrebungen besitzen, wäre die Diktatur des Proletariats unnötig. Das würde Marx und Lenin sowie jeglicher Logik Hohn sprechen!

Lenin machte uns unmissverständlich klar:

Die Aufhebung der Klassen ist das Werk eines langwierigen, schweren, hartnäckigen Klassenkampfes, der nach dem Sturz der Macht des Kapitals, nach der Zerstörung des bürgerlichen Staates, nach der Aufrichtung der Diktatur des Proletariats nicht verschwindet (wie sich das Flachköpfe vom alten Sozialismus und von der alten Sozialdemokratie einbilden), sondern nur seine Formen ändert und in vieler Hinsicht noch erbitterter wird.“5

Ist daran etwas misszuverstehen? Ich denke nicht.

Nun zum dritten Vorwurf. Geht man die Logik des Vorwurfs konsequent zu Ende, wären bürgerliche Ideen im Sozialismus plötzlich nicht mehr bürgerlich, weil die Bourgeoisie nicht mehr legal besteht. Wären sie dadurch auf einmal “klassenneutral”? Es ist doch offensichtlich, dass dieser Vorwurf nicht stimmig ist. Es genügt zwar den Punkt zu widerlegen, aber ich möchte auch ausführen, was richtig ist, damit wir nicht nur wissen, was wir nicht tun sollen, sondern auch, was zu tun ist.

Lenin schrieb:

Sozialismus ist Abschaffung der Klassen. Die Diktatur des Proletariats hat für diese Abschaffung alles getan, was sie tun konnte. Aber auf einen Schlag kann man die Klassen nicht abschaffen.

Und die Klassen sind geblieben und werden für die Dauer der Epoche der Diktatur des Proletariats bestehenbleiben. Die Diktatur wird nicht mehr gebraucht werden, wenn die Klassen verschwunden sind. Sie werden nicht verschwinden ohne die Diktatur des Proletariats.

Die Klassen sind geblieben, aber jede Klasse hat sich in der Epoche der Diktatur des Proletariats verändert; auch ihr Verhältnis zueinander hat sich verändert. Der Klassenkampf verschwindet nicht unter der Diktatur des Proletariats, sondern nimmt nur andere Formen an.”6

Sozialismus hat als Grundbedingung die Abschaffung der Ausbeutung, also der Ausbeuterklassen. Die generelle Abschaffung der Klassen (was im Prinzip auf ein Eingehen aller Werktätigen in der Arbeiterklasse hinausläuft) ist ein längerer Prozess.

Der Klassenkampf “nimmt andere Formen an”. Darunter fällt vor allem der ideologische Kampf und natürlich der Kampf gegen die Restauration des Kapitalismus von außen (die Stalin bereits erwähnte).

Lenin machte unmissverständlich deutlich:

Um die Klassen aufzuheben, ist eine Periode der Diktatur einer Klasse notwendig, nämlich derjenigen unterdrückten Klasse, die befähigt ist, nicht nur die Ausbeuter zu stürzen, nicht nur schonungslos deren Widerstand zu unterdrücken, sondern die auch imstande ist, mit der ganzen bürgerlich-demokratischen Ideologie zu brechen, mit all den Spießerphrasen über Freiheit und Gleichheit schlechthin. (In Wirklichkeit bedeuten diese Phrasen, wie Marx längst gezeigt hat, „Freiheit und Gleichheit” der Warenbesitzer, „Freiheit und Gleichheit” des “Kapitalisten und des Arbeiters.)”7

Die Aufhebung der Klassen hat auch den Kampf gegen die bürgerliche Ideologie als Bestandteil. Das wird allzu oft ignoriert vor lauter Ökonomik und formeller politischer Struktur.

Ein Beispiel: Man kann in Stalins “Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR” (1952) erkennen, dass Stalin revisionistische Anschauungen als ehrliche Fehler ansah. Diese wurden aber später zur Grundlage der Chruschtschowschen Wirtschaftspolitik. Er erkannte die Brisanz nicht. Er kritisierte zwar diese Abweichungen, entlarvte sie aber nicht mit einer Warnung als bürgerliche Abweichungen. Das hatte die Wirkung wie die formelle Verurteilung des Revisionismus durch den SPD-Parteitag im Jahre 1903: Eine Ablehnung in Worten ohne praktische Konsequenzen.

Vor diesem Hintergrund noch eine Frage, sozusagen als “Anhang”:

Darf man Stalin überhaupt kritisieren? Ja, das darf man und muss man auch, wenn man erkennt, dass er einen Fehler begangen hat. Ansonsten wiederholt man aus Dogmatismus heraus alte Fehler. Molotow sprach im Nachhinein davon, sich darüber geärgert zu haben, den Entwurf von Stalins “Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR” nicht ernster genommen zu haben, als dieser Kritik durch seine Genossen einforderte. So kritisiert Molotow, dass der Umfang der Produktion der kapitalistischen Staaten sinken würde, weil diese auf einer “eingeengten Basis” stattfinden würde; Molotow kommentierte: “Aber nichts in dieser Art ist geschehen.”8 Möglicherweise spielte bei Stalins Gedanken die Tatsache eine Rolle, dass in den USA nach der Weltwirtschaftskrise 1929-1933 bereits 1937 die nächste Krise folgte. Eine falsche Verallgemeinerung könnte den oben genannten Schluss zugelassen haben. Nun steht diese Aussage in Stalins Werk für alle Zeit festgeschrieben, was sie nicht richtiger macht.

Wir müssen wie Molotow sein und die Sache des Marxismus-Leninismus hochhalten und alte Fehler berichtigen. Dies ist auch im Sinne Lenins:

Einen Fehler offen zugeben, seine Ursachen aufdecken, die Umstände, die ihn hervorgerufen haben, analysieren, die Mittel zur Behebung des Fehlers sorgfältig prüfen — das ist das Merkmal einer ernsten Partei, das heißt Erfüllung ihrer Pflichten, das heißt Erziehung und Schulung der Klasse und dann auch der Masse.”9

4“Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU(B)” (10. März 1939) In: J. W. Stalin “Werke”, Bd. 14, Verlag Roter Morgen, Dortmund 1976, S. 229.

5“Gruß an die ungarischen Arbeiter” (27. Mai 1919) In: W. I. Lenin “Werke”, Bd. 29, Dietz Verlag, Berlin 1984, S. 378.

6“Ökonomik und Politik in der Diktatur des Proletariats” (30. Oktober 1919) In: Ebenda, Bd. 30, Dietz Verlag, Berlin 1961, S. 99.

7“Gruß an die ungarischen Arbeiter” (27. Mai 1919) In: Ebenda, Bd. 29, Dietz Verlag, Berlin 1984, S. 379.

8Felix Chuev “Molotov remembers”, Ivan R. Dee, Chicago 1993, S. 234, Englisch (E-Book).

9“Der ´linke Radikalismus´, die Kinderkrankheit im Kommunismus” (April/Mai 1920) In: W. I. Lenin “Werke”, Bd. 31, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 42.

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