Die Aushöhlung der KPdSU und UdSSR – Über die “Partei des ganzen Volkes” und den “Staat des ganzen Volkes”

Jedem, dem die Kritik der KP Chinas unter Mao am Sowjetrevisionismus bekannt ist, dürfte folgende zwei Begriffe kennen: “Partei des ganzen Volkes” und “Staat des ganzen Volkes.”

Diese beiden Begriffe stehen exemplarisch für die innere Aushöhlung des Sozialismus in der Sowjetunion, da diese der marxistischen Theorie vom Klassencharakter von Partei und Staat widersprechen.

Bezüglich der “Partei des ganzen Volkes”

Diese revisionistische Theorie wurde von Nikita Sergejewitsch Chruschtschow auf dem XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 verkündet. Chruschtschow führte dazu aus:

Unsere marxistisch-leninistische Partei, die als Partei der Arbeiterklasse entstand, ist zu einer Partei des ganzen Volkes geworden.”1

Was ist das Fatale an dieser Theorie? Dass dadurch die KPdSU als Avantgardepartei der Arbeiterklasse und der Werktätigen somit aufhörte zu existieren. Der Selbstanspruch der KPdSU ging komplett flöten; die KPdSU konnte von diesem Zeitpunkt an auf keinen Fall mehr beanspruchen, die “Partei Lenins” zu sein (was sie schon seit dem XX. Parteitag der KPdSU ohnehin nicht mehr war). Lenin schrieb in “Einen Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück”:

Man darf doch wirklich die Partei als Vortrupp der Arbeiterklasse nicht mit der ganzen Klasse verwechseln.”2

Chruschtschow “verwechselte” nicht nur die Avantgardepartei als Organisation der fortgeschrittensten Elemente der Arbeiterklasse mit der Arbeiterklasse als Gesamtes, sondern mit dem “ganzen Volk”! Die Partei wird dadurch verwässert bis zur Unkenntlichkeit. Die Auswirkungen sind bekannt: Spätestens in den 80er Jahren waren die kommunistischen Parteien der Sowjetrepubliken durchsetzt mit bürgerlichen Nationalisten und sonstigen antisozialistischen Elementen. Deren führende Köpfe leiten teilweise bis heute die kapitalistischen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetrepubliken.

Man sagt: “Der Fisch stinkt vom Kopf.” So war es auch bei der “Partei des ganzen Volkes”, denn durch die Entartung des Klassencharakters der Partei Stand der Entartung des Staates nichts mehr im Wege.

Bezüglich des “Staates des ganzen Volkes”

Der “Staat des ganzen Volkes” hat eine Vorgeschichte, die in die Stalin-Ära zurückreicht.

Stalin sagte auf dem XVIII. Parteitag der KPdSU am 10. März 1939 über die Zeit nach 1936:

Die Funktion der militärischen Unterdrückung innerhalb des Landes kam in Wegfall – starb ab -, denn die Ausbeutung ist vernichtet, Ausbeuter gibt es keine mehr und daher auch niemanden, der zu unterdrücken wäre. Anstelle der Funktion der Unterdrückung erhielt der Staat die Funktion, das sozialistische Eigentum vor Dieben und Plünderern des Volksguts zu schützen. Die Funktion des militärischen Schutzes des Landes vor Überfällen von außen blieb völlig erhalten, es blieben folglich auch die Rote Armee, die Kriegsmarine, ebenso wie die Straforgane und der Abwehrdienst, die notwendig sind zur Aufdeckung und Bestrafung von Spionen, Mördern und Schädlingen, die von den ausländischen Spionagediensten in unser Land geschickt werden.”3

Der Klassenkampf innerhalb der Sowjetunion wurde somit als “beendet” angesehen; die Erscheinungen der “Spione, Mörder und Schädlinge” wurden nicht als Klassenkampf gesehen. Mao Tsetung kritisierte: Stalin hat im Jahre 1936 die Theorie vom Erlöschen des Klassenkampfes verkündet, im Jahre 1939 wurden wieder Konterrevolutionäre beseitigt – war das etwa kein Klassenkampf?”4 Diese Kritik an diesem konkreten Fehler Stalins hat Bestand.

Dieser Fehler verursachte Folgefehler. Für das Jahr 1947 war ein Parteitag der KPdSU in Planung, der dann aber erst 1952 stattfand. In einem Parteiprogrammentwurf hieß es damals, dass sich die Diktatur des Proletariats zunehmend in eine “Diktatur des Sowjetvolkes” verwandle5. Nicht nur hier zeigt sich dieser Folgefehler. Molotow sagte gegenüber Feliks Tschujew: “In einem privaten Gespräch kannte er [Stalin; L. M.], dass wir keine Diktatur des Proletariats mehr hätten.”6 Während der Stalin-Ära wurde dies nie kodifiziert. Aber man kann daran ersehen, an welchen ideologischen Fehler Chruschtschow und Breshnew anknüpfen sollten.

Das erste Mal vom “Staat des ganzen Volkes” war auf dem XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 die Rede. Chruschtschow sprach in seiner Rede über das Programm der KPdSU von einem “Hinüberwachsen des Staates der Diktatur der Arbeiterklasse in einen Staat des ganzen Volkes” und führte weiter aus:

Der Staat des ganzen Volkes – das ist eine neue Etappe in der Entwicklung des sozialistischen Staates, ein überaus wichtiger Markstein auf dem Wege des Hinüberwachsens des sozialistischen Staatswesens in die kommunistische gesellschaftliche Selbstverwaltung.”7

Chruschtschow verstieg sich sogar zu dieser Aussage: “Für den Aufbau des Kommunismus ist die Diktatur des Proletariats nicht mehr erforderlich.”8 Wohlgemerkt: Er sagt “für den Aufbau des Kommunismus” und nicht “im Kommunismus”! Und dennoch wendet sich Chruschtschow gegen das Absterben des Staates9, obwohl dieses die einzig logische Konsequenz wäre. Dazu aber später, an anderer Stelle, mehr.

Natürlich kritisierte Molotow diese revisionistische These damals10. Er machte deutlich: “Solange der Staat notwendig ist, kann er nur die Diktatur des Proletariats sein.”11 Seine Opposition zu Chruschtschow führte dazu, dass man ihn 1962 aus der KPdSU ausschloss. Diese falsche Theorie höhlte den Klassencharakter des Sowjetstaates aus. Sie wurde aber unter Chruschtschow noch nicht verwirklicht. Dies sollte erst sein Nachfolger tun: Leonid Iljitsch Breshnew.

Breshnew mag zwar nicht durch ein so auffälliges Verhalten wie sein Amtsvorgänger in Erinnerung geblieben sein, aber er änderte dessen Kurs eben nicht ab. Breshnew bekannte sich auf dem XXIII. Parteitag der KPdSU unmissverständlich zu den Beschlüssen des XX., XXI. und XXII. Parteitags der KPdSU12. Was 1964 geschah war also kein ideologischer Bruch, sondern lediglich ein Personalwechsel.

So wie Stalin im Jahre 1936 seine marxistisch-leninistisch fundierte Verfassung begründete und verkündete, so tat dies Breshnew im Jahre 1977 genauso mit seiner revisionistischen Verfassung. Entsprechend hielt Breshnew am 4. Oktober 1977 eine Rede über eben diese Verfassung auf der außerordentlichen 7. Tagung des Obersten Sowjets in der IX. Legislaturperiode. Genauso wie Chruschtschow sagte Breshnew:

Ein Ergebnis des vollen Triumphs der sozialistischen gesellschaftlichen Beziehungen ist, wie unsere Erfahrung lehrt, das allmähliche Hinüberwachsen des Staates der Diktatur des Proletariats in den Staat des gesamten Volkes.”13

Was ist das besonders Fatale an dieser Theorie? Sie liegt nicht nur in der Aushöhlung des Klassencharakters des Staates, dem sich die sowjetrevisionistischen Ideologen durch nichtige Argumentationsrhetorik versuchte zu entziehen.

Es ist auch eine völlig falsche Auffassung der marxistischen Staatstheorie vom Grundansatz her.

Engels schrieb schon 1875 an Bebel:

Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, deren man sich im Kampf, in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist es purer Unsinn, vom freien Volksstaat zu sprechen: solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen.”14

Kurzum: Ein Staat ist entweder die Diktatur einer Klasse über eine andere oder der Staat ist dabei, sich aufzulösen. Diesen Fakt hielt auch die New York Times bereits am 10. Juni 1977 dem sowjetischen Verfassungsentwurf vor15. Breshnews Reaktion sah wie folgt aus:

Diese Sorge der der Ideologen des Kapitalismus um die Entwicklung unseres sozialistischen Staates in Übereinstimmung mit der marxistisch-leninistischen Lehre ist freilich rührend. Ihre Sorgen sind jedoch völlig fehl am Platze. Die Entwicklung vollzieht sich gerade in die Richtung, wie die Klassiker des Marxismus sie vorausgesehen haben und wie unsere Partei sie in ihren grundlegenden Dokumenten fixiert hat.”16

Welch eine verlogene Demagogie, zu behaupten, dass die revisionistische Theorie vom “Staat des ganzen Volkes” so wäre, “wie die Klassiker des Marxismus sie vorausgesehen” hätten! Das klare Gegenteil ist der Fall, wie allein schon Engels beweist.

In der Verfassung der Sowjetunion vom 7. Oktober 1977 steht dies geschrieben:

Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ist ein sozialistischer Staat des ganzen Volkes, der den Willen und die Interessen der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz, der Werktätigen aller Nationen und Völkerschaften des Landes zum Ausdruck bringt.”17

Diese Formulierung wirkt wie ein schlechter Kompromiss. Die UdSSR sei ein “Staat des ganzen Volkes”, aber weil dies offenbar den Autoren der Verfassung nicht genügte, wurden die Arbeiter, Bauern und Intellektuellen auch noch erwähnt. Sind sie etwa nicht ein Teil des “ganzen Volkes” gewesen?

Der “Staat des ganzen Volkes” war nicht nur in der Verfassung der Sowjetunion allein festgeschrieben, sondern auch in den Verfassungen der Sowjetrepubliken, die im Jahre 1978 abgeändert worden sind. Einige Beispiele:

Die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik ist ein sozialistischer Staat des gesamten Volkes, der den Willen und die Interessen der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz, der Werktätigen aller Nationen und Völkerschaften der Republik zum Ausdruck bringt.”18

Die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik ist ein sozialistischer Staat des gesamten Volkes, der den Willen und die Interessen der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz, der Werktätigen aller Nationen und Völkerschaften der Republik zum Ausdruck bringt.”19

Die Estnische Sozialistische Sowjetrepublik ist ein sozialistischer Staat des gesamten Volkes, der den Willen und die Interessen der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz, der Werktätigen aller Nationen und Völkerschaften der Republik zum Ausdruck bringt.”20

Die Lettische Sozialistische Sowjetrepublik ist ein sozialistischer Staat des gesamten Volkes, der den Willen und die Interessen der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz, der Werktätigen aller Nationen und Völkerschaften der Republik zum Ausdruck bringt.”21

Die Litauische Sozialistische Sowjetrepublik ist ein sozialistischer Staat des gesamten Volkes, der den Willen und die Interessen der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz, der Werktätigen aller Nationen und Völkerschaften der Republik zum Ausdruck bringt.”22

Die Georgische Sozialistische Sowjetrepublik ist ein sozialistischer Staat des gesamten Volkes, der den Willen und die Interessen der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz, der Werktätigen aller Nationen und Völkerschaften der Republik zum Ausdruck bringt.”23

Was fällt auf? Die Verfassungen der Sowjetrepubliken wurden mit der “Breshnew-Verfassung” in Einklang gebracht, waren im Prinzip lokale Kopien. Der Wortlaut ist identisch für diesen Artikel, nur der Name der Sowjetrepublik variiert.

Letztlich war der “Staat des ganzen Volkes” in gewissem Sinne eine schrittweise Auflösung der Sowjetunion zugunsten der kapitalistischen Restauration. Außerdem ist diese revisionistische Theorie ein eindeutiger Beleg dafür, dass unter Breshnew “Chruschtschowismus ohne Chruschtschow”24 betrieben worden ist, wie es Mao schon frühzeitig erkannte.

Sozialismus des ganzen Volkes”?

Mir ist kein Fall bekannt, in dem tatsächlich explizit von einem “Sozialismus des ganzen Volkes” die Rede gewesen wäre. Breshnew erwähnte lediglich auf dem XXV. Parteitag der KPdSU am 24. Februar 1976, dass der Kommunismus “im Interesse des ganzen Volkes” aufgebaut werden würde25. Implizit schwingt ein “Sozialismus des ganzen Volkes” auch mit, wenn Partei und Staat – also das gesellschaftliche System samt dessen politischer Führungsspitze – beide Organe “des ganzen Volkes” seien. Sozialismus und Kommunismus entsprechen vor allem dem Klasseninteresse der Arbeiterklasse und in zweiter Linie dem der kleinbürgerlichen Werktätigen. Ein “Sozialismus des ganzen Volkes” könnte also nie mehr als betrügerische Demagogie sein, die die Bourgeoisie über die Hintertür rehabilitieren wollen würde.

Man erkennt daran auch, dass es keine ideologische Trennlinie zwischen Chruschtschow und Breshnew gegeben hat, die gerne behauptet wird. Sie ist ein Mythos. Der Sowjetrevisionismus von Chruschtschow, Breshnew und zuletzt Gorbatschow bildet im Wesentlichen eine Linie.

Unsere Aufgabe ist es, stets an der Klassenlinie der Arbeiterklasse in der politischen Führung festzuhalten und davon keine Abweichung zuzulassen.

1“Über das Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion” (18. Oktober 1961) In: N. S. Chruschtschow “Der Triumph des Kommunismus ist gewiss”, Dietz Verlag, Berlin 1961, S. 298.

2“Einen Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück” (Mai 1904) In: W. I. Lenin “Werke”, Bd. 7, Dietz Verlag, Berlin 1973, S. 257.

3“Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU(B)” (10. März 1939) In: J. W. Stalin “Werke”, Bd. 14, Verlag Roter Morgen, Dortmund 1976, S. 229.

4“Reden auf einer Arbeitskonferenz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas” (8. bis 25. Oktober 1966) In: Mao Zedong “Texte”, Bd. VI.1, Carl Hanser Verlag, München/Wien 1982, S. 218.

6Felix Chuev “Molotov remembers”, Ivan R. Dee, Chicago 1993, S. 233, Englisch (E-Book).

7“Über das Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion” (18. Oktober 1961) In: N. S. Chruschtschow “Der Triumph des Kommunismus ist gewiss”, Dietz Verlag, Berlin 1961, S. 243.

8Ebenda, S. 245.

9Vgl. Ebenda, S. 246.

10Vgl. Felix Chuev “Molotov remembers”, Ivan R. Dee, Chicago 1993, S. 435, Englisch (E-Book).

11Ebenda, S. 434, Englisch (E-Book).

12Siehe: L. I. Breshnew “Unsere Zeit im Zeichen des wachsenden Einflusses des Sozialismus”, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 5.

13L. I. Breshnew “Über den Entwurf der Verfassung (Grundgesetz) der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Ergebnisse der Volksaussprache über den Entwurf”, APN-Verlag, Moskau 1977, S. 25.

14Friedrich Engels “(Brief an Bebel)” (18./28. März 1875) In: Karl Marx/Friedrich Engels “Werke”, Bd. 19, Dietz Verlag, Berlin 1987, S. 7.

16L. I. Breshnew “Über den Entwurf der Verfassung (Grundgesetz) der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Ergebnisse der Volksaussprache über den Entwurf”, APN-Verlag, Moskau 1977, S. 22.

24“Gespräch mit Edgar Snow über internationale Angelegenheiten” (9. Januar 1965) In: Mao Zedong “On Diplomacy”, Foreign Languages Press, Beijing 1998, S. 424, Englisch.

25Vgl. L. I. Breshnew “Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und die nächsten Aufgaben der Partei in der Innen- und Außenpolitik”, Dietz Verlag, Berlin 1976, S. 105/106.

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