Die stille Degradierung
Auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im Oktober 2022 gab es einen Zwischenfall, der für Furore gesorgt hat: Der ehemalige Generalsekretär des ZK der KP Chinas, Hu Jintao, wurde während einer laufenden Sitzung unfreiwillig aus dem Saal begleitet. Dies wurde von offizieller chinesischer Seite später mit angeblichem “Unwohlsein” Hu Jintaos begründet1. Daraufhin folgten Spekulationen über Hintergründe und Folgen.
In China ist es unüblich, dass Brüche offen nach außen getragen werden. Normalerweise setzt man dort auf Konnotationen und Gewichtung. Im Fall von Hu Jintao ist dies mit der öffentlich Bloßstellung gewissermaßen beidseitig geschehen. Dennoch: Hu Jintao ist nicht völlig aus der Welt geschafft worden – dies wäre ein unmöglich erfolgreiches Unterfangen – aber seine Stellung innerhalb der Parteigeschichte wurde degradiert.
Eine ganz offensichtliche Folge zeigt sich in der Neuausgabe von Xi Jinpings Werken. Wird Hu Jintao noch in den älteren Ausgaben von The Governance of China als Kopf der vierten Führungsgeneration bezeichnet, so wurden in den Selected Readings from the Works of Xi Jinping diese Bezeichnungen an eben diesen Stellen nachträglich herausredigiert.
So ist beispielsweise in der Version von Xi Jinpings Rede zum 110. Geburtsjubiläum von Deng Xiaoping am 20. August 2014 in The Governance of China, Volume II noch immer die Rede von der “vierten Führungsgeneration, angeführt von Generalsekretär Hu Jintao”2, während in der Redeversion, die in Selected Readings from the Works of Xi Jinping, Volume I abgedruckt ist, lediglich vom “Zentralkomitee, geführt von Generalsekretär Hu Jintao”3 die Rede ist. Die Bezeichnungen der ersten, zweiten und dritten Generation finden sich in dieser Version aber noch. In den sich auf unnummerierten Seiten befindenden Vorbemerkungen des Herausgebers, in welchen von “kleineren Änderungen” in einigen Werken die Rede ist und dass alle Werke des Bandes von Xi Jinping persönlich durchgesehen und abgesegnet worden seien. Was heißt das? Das heißt, dass diese Änderungen an den Werken von Xi Jinping bewusst getätigt worden sind.
Hu Jintaos Ausgewählte Werke wurden im September 2016 herausgegeben. Bis heute liegen keine Übersetzungen in ausländische Sprachen, allem voran Englisch, vor. Das ist ungewöhnlich, schließlich wurden die Werke seines Vorgängers Jiang Zemin auch übersetzt wie auch die seines omnipräsenten Nachfolgers Xi Jinping. Stattdessen liegen diese nur in Übersetzungen in lokale Amtssprachen Chinas vor, darunter unter anderem Uigurisch, Tibetisch und Mongolisch. Während Jiang Zemins Ausgewählte Werke 2006 auf Chinesisch herausgegeben worden sind und zwischen 2010 und 2013 in englischsprachiger Übersetzung erschienen sind, geschieht dies bei Hu Jintaos Ausgewählten Werken auch beinahe ein Jahrzehnt nach der Herausgabe nicht. Das lässt nur den Schluss zu: Die Degradierung Hu Jintaos begann vor dem XX. Parteitag der KP Chinas, aber ihr konkreter Grund ist nicht bekannt. Wäre der Zwischenfall auf dem Parteitag nicht gewesen, hätte die Weltöffentlichkeit von ihr wahrscheinlich nichts mitbekommen.
Dieser Vorgang ist einzigartig in der jüngeren chinesischen Geschichte. Er ist aber Ausdruck eines inneren ideologischen Konflikts in den Reihen der Parteiführung der KP Chinas. Dieser spricht für die These, dass es innerhalb der Führung der KP Chinas verschiedene Interessengruppen gibt, die miteinander um die Vorherrschaft kämpfen. Mehr zu sagen, wäre bloße Spekulation.
1https://www.spiegel.de/ausland/hu-jintao-zwischenfall-um-chinas-ex-parteichef-wird-mit-unwohlsein-erklaert-a-df6819d5-a2f6-4187-87f6-be69e144667d
2“A bright Future for Socialism with Chinese characteristics” (20. August 2014) In: Xi Jinping “The Governance of China”, Vol. II, Foreign Languages Press, Beijing 2018, S. 13, Englisch.
3“A bright Future for Socialism with Chinese characteristics” (20. August 2014) In: “Selected Readings from the Works of Xi Jinping”, Vol. I, Foreign Languages Press, Beijing 2024, S. 272, Englisch.