Eine Einschätzung zur Dschutsche-Ideologie

Liebe Leser, im Folgenden bieten wir die Einschätzung der Juche-Ideologie aus marxistischer Sicht dar, welche im Dezember 2023 von Genosse Wubulixi verfasst worden ist. Er erschien kurzzeitig auf der Webseite der KPD in einer von der Internationalen Kommission des ZK der KPD redigierten Form, bevor dieser Diskussionbeitrag zensiert worden ist. Da dieser Text weder an Aktualität noch an Bedeutung verloren hat, hier der unveränderte Originaltext:

Kim Il Sung behauptete nie, dass Dschutsche eine völlig neue Ideologie wäre, sondern machte stets klar: Es handelt sich dabei um die Anwendung des Marxismus-Leninismus auf koreanische Verhältnisse1. Ideologisch gesehen war Kim Il Sung außerdem de facto ein Anhänger von Mao Tsetung, ohne dass er es offen zugab. So kopierte er beispielsweise Maos Theorie der Neuen Demokratie (Volksdemokratie) nahezu 1:1 im Jahre 1945 und nannte diese „progressive Demokratie“. Außerdem führte Kim Il Sung ab 1966 eine antirevisionistische Kampagne durch unter dem Namen „Revolutionierung und Umformung nach dem Vorbild der Arbeiterklasse“, welche sich, ähnlich wie die „Revolutionierung Albaniens“ unter Hoxha ab der selben Zeit, sich an der Großen Proletarischen Kulturrevolution in China orientierte. Dschutsche-Anhänger bestreiten bis heute zumeist, dass Kim Il Sung vom Maoismus lernte. Dieses Abstreiten ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich Kim Il Sungs ideologische Ausrichtung nicht vollständig von innen heraus erklären lässt. Er besaß durchaus Vorbilder, nur wurden diese in der Propaganda der DVRK nicht mehr groß genannt, wie zum Beispiel es ungerne genannt wird, dass die Sowjetarmee 1945 nach Nordkorea kam und 1948 abzog. Die überlebenswichtige Rolle der chinesischen Volksfreiwilligenarmee im Koreakrieg hingegen lässt sich nicht so einfach ignorieren. Die DVRK und die PdAK haben den Hang zur hagiographischen Verklärung der Geschichte, was aus Sicht des historischen Materialismus unzulässig ist.

Das Verständnis der Dschutsche-Ideologie als auf koreanische Verhältnisse angewandten Marxismus-Leninismus existiert seit Kim Jong Il nicht mehr. Es lohnt sich nicht, jedes einzelne Werk von Kim Jong Il aus marxistischer Sicht zu bewerten. Ihm mangelte es ohnehin an der theoretischen Tiefe, die sein Vater Kim Il Sung besaß. Da nützt es auch nichts, seinen Namen in Großbuchstaben abzutippen. Auf die einige Jahre praktizierte Mythologisierung des Begriffs „Jajuseong“ (Souveränität) in den Werken Kim Jong Ils, welche Hans Maretzki, der letzte DDR-Botschafter in der DVRK, monierte2, werde ich hier nicht eingehen, da diese Mythologisierung durch spätere Übersetzungen, die den Begriff nicht mehr als unübersetztes Fremdwort im Text stehen ließen, behoben worden ist. Nun zu Kim Jong Ils Werken.

Das erste Werk laut den Ausgewählten Werken von Kim Jong Il stammt aus dem Jahre 1964 (auf Deutsch nicht verfügbar). Damals war Kim Jong Il gerade einmal 22 Jahre alt. Im Jahre 2023 wurden ein Gespräch vom 16. September 1962 mit Teilnehmern am Feldlager zur militärischen Ausbildung der Kim-Il-Sung-Universität3 und ein Gespräch vom 5. September 1963 mit Studenten der Kim-Il-Sung-Universität in Pjöngjang gewesen sein soll4 veröffentlicht. Damals wäre Kim Jong Il folglich sogar erst 20 bzw. 21 Jahre alt gewesen. Es merkt durchaus merkwürdig an, dass diese Werke zeitgenössisch keine Verbreitung gefunden haben und, wie man vor allem an Band 2 der Ausgewählten Werke (1970-1972) ersehen kann, sich überwiegend mit Fragen von Film, Kultur und Kunst beschäftigen und außerdem zur Hälfte aus Gesprächen besteht, zur anderen Hälfte aus Reden. Das beweist Zweierlei, wenn man mal die Frage der Fingierung außen vor lässt: Es gab keine Artikel von Kim Jong Il in Parteiorganen in der damaligen Zeit und er befasste sich damals nicht mit ideologischen Fragen. Auch in späteren Jahren – als aktiver Spitzenpolitiker der DVRK – verfasste Kim Jong Il Werke über Film, Kultur und Kunst.

Kim Jong Ils Werke sind oftmals erst Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte nach ihrer angeblichen Abfassung veröffentlicht worden (vor allem bei seinen früh datierten Werken). Angeblich soll Kim Jong Il am 2. April 1974 das Werk „Einige Probleme zum Verständnis der Juche-Philosophie“ verfasst haben. Dort steht, was erst Jahrzehnte später von ihm öffentlich behauptet worden ist: „Die Juche-Philosophie ist eine neue Weltanschauung, die von Kim Il Sung begründet wurde.“5 Das fällt aus dem zeitlichen Rahmen. Um diesen Widersprich zu kitten, sagt Kim Jong Il am Schluss: „Auf die Souveränität und andere Probleme, die sich beim Studium der Juche-Ideologie ergeben, werde ich noch ausführlicher zu sprechen kommen. Deshalb schlage ich vor, meine Ausführungen noch nicht zu veröffentlichen.“6 Diese Aussage nimmt indirekten Bezug auf ein Jahrzehnt später getätigte Aussagen. Das macht die Datierung auf das Jahr 1974 unauthentisch. Wenn auf Wikipedia behauptet wird, dass die offiziellen Werke von Kim Jong Il aus „rückdatierten Werken“ bestehen würden, die „er selbst nie geschrieben“ habe7, so ist diese Unterstellung mindestens plausibel.

Kim Jong Il verkündete bereits am 14. November 1992 in einem Gespräch mit Funktionären des ZK der PdAK, dass der Marxismus-Leninismus „beschränkt“ und die Dschutsche-Ideologie „eigenschöpferisch“ sei: „Die Juche-Ideologie ist eine eigenschöpferische Ideologie, die Kim Il Sung in Widerspiegelung der neuen Epoche der Geschichte, der Zeit der Souveränität, dargelegt hat, und eine vervollkommnete revolutionäre Theorie vom Kommunismus. Wenn die Originalität und Überlegenheit der Juche-Ideologie gut umrissen werden, wird die Begrenztheit der marxistisch-leninistischen Theorie von selbst ergründet.“8 Damit trennte Kim Jong Il Marxismus-Leninismus und die Dschutsche-Ideologie bereits vor Kim Il Sungs Tod.

Kim Il Sung hingegen sagte noch am 16. April 1994, also wenige Monate vor seinem Tod: „Unsere Partei hat den Marxismus-Leninismus nicht mechanisch übernommen, sondern schöpferisch weiterentwickelt und angewandt; und auf der Grundlage der Juche-Ideologie führt sie auf unsere Art und Weise Revolution und Aufbau durch.“9 Kim Il Sung beharrte also bis zu seinem Tod auf dem Standpunkt, dass die Dschutsche-Ideologie die schöpferische Anwendung des Marxismus-Leninismus auf die koreanischen Verhältnisse sei.

Kim Jong Ils wohl berühmtestes Werk ist „Der Sozialismus ist eine Wissenschaft“, veröffentlicht am 1. November 1994. Kim Jong Il attackierte dort die revisionistischen Restaurateure des Kapitalismus: „Die Verräter am Sozialismus führen, von einer reaktionären Auffassung vom Menschen und von einem ebensolchen Standpunkt zu ihm ausgehend, die bürgerliche Liberalisierung sowie die kapitalistische Marktwirtschaft ein und restaurieren den Kapitalismus.“10 Mit dieser Aussage ist das Positive des Werkes bereits abgehakt. Ansonsten besteht es aus falschen Behauptungen über den Marxismus und Übertreibungen über die Dschutsche-Ideologie. Er behauptete zum Beispiel: „Der Marxismus definierte das Wesen des Menschen als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“11 Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein, das stimmt. Aber der Mensch existiert sonst noch als biologisches Lebewesen. Abgesehen davon ist das, was Kim Jong Il dem entgegensetzt als die „Dschutsche-Sicht“ nicht viel mehr erhellend: „Die Juche-Ideologie begründete erstmals in der Geschichte, dass der Mensch ein Wesen ist, das außer seinem physischen Leben auch ein gesellschaftliches und politisches Leben führt.“12 Die Dschutsche-Ideologie hat darauf kein Erstgeburtsrecht, nicht einmal der Marxismus hat es. Seit der Sklavenhalterordnung hat es wohl keine Ideologie gegeben, die das biologische und das gesellschaftliche Leben voneinander getrennt hätte. Ein solcher Gedanke erfordert ein Maß an Abstraktion, auf die man erst einmal kommen müsste. Kim Jong Il unterstellt dem Marxismus nicht nur fälschlicherweise Halbheit, sondern bietet unoriginelle Gedanken als „Lösung“ an.

Am 1. Februar 1995 warnte Kim Jong Il davor, dass, sollte das staatliche Außenhandelsmonopol aufgegeben werden, eine „Reform“ und „Öffnung“ eintreten könnte, die die koreanische Wirtschaft in den Kapitalismus zurückführen würde13. Man kann Kim Jong Il bei dieser Feststellung keinen Revisionismus vorwerfen, sondern aus marxistischer Sicht nur zustimmen. Aber diese Sichtweise hatte bereits sein Vater in seinen letzten Jahren mehrfach geäußert.

Kim Jong Il machte auch am 19. Juni 1995 deutlich: „Eine Förderung von Relikten der überholten Gesellschaft oder die Einführung kapitalistischer Verwaltungsmethoden in die sozialistische Wirtschaftsleitung, insbesondere aber die Verletzung des sozialistischen Eigentums sowie die Wiederbelebung des kapitalistischen Eigentums im Sozialismus zerstören die ökonomische, materielle Grundlage der sozialistischen Ideologie und schaffen die Voraussetzung für eine Herausbildung von Individualismus, Egoismus und bürgerlichen Ideen. Es ist unvermeidlich, dass das System des Privateigentums Individualismus gebärt, dass auf der Basis des kapitalistischen Eigentums und der kapitalistischen Marktwirtschaft bürgerliche Ideologie entsteht und sich verbreitet. Sozialismus ist mit Privateigentum und kapitalistischer Marktwirtschaft unvereinbar.“14 Auch das ist richtig. Eine so klare Haltung lässt sich bei einigen Genossen auch heute vermissen. Kim Jong Il machte aber auch wieder eine Falschaussage über den Marxismus:

Etliche Parteien verhielten sich früher schematisch zu dem Lehrsatz des historischen Materialismus, der besagt, dass die materiell-ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft das soziale Bewusstsein bestimmen und mit der Veränderung dieser Bedingungen sich das soziale Bewusstsein ändert. Sie dachten, dass sich auch das ideologische Bewusstsein mit der Errichtung der sozialistischen Ordnung, dem Voranschreiten des sozialistischen Aufbaus und dem damit einhergehenden Steigen des materiellen und kulturellen Lebensstandards der Menschen verändern würde. Deshalb versäumten sie es, der ideologischen Arbeit große Aufmerksamkeit zu widmen.“15

Der historische Materialismus besagt nicht, dass das ideologische Bewusstsein sich sozusagen im Autopilot entwickeln würde. Die ideologische Erziehungsarbeit wurde weniger wegen einem „falschen Lehrsatz“, den es in dieser Form nie gab, vernachlässigt, sondern wegen dem Auftreten des Revisionismus. Revisionisten haben kein Interesse daran, den Massen wahrhaft sozialistisches Bewusstsein zu vermitteln.

Kim Jong Il behauptete: „Die Juche-Ideologie beleuchtete erstmals in der Geschichte, dass der Mensch ein souveränes und schöpferisches soziales Wesen ist, das mit seiner eigenen Kraft die Welt umgestaltet und sein Schicksal meistert, und dass das souveräne ideologische Bewusstsein bei der Gestaltung des Geschicks des Menschen die entscheidende Rolle spielt.“16 Falls er die Rückwirkung von Bewusstsein auf das Sein meinen sollte hinter den unnötigen Phrasen, dann liegt er auch hier falsch, dass die Dschutsche-Ideologie darauf das Erstgeburtsrecht beanspruchen könnte. „Das Bewußtsein des Menschen widerspiegelt nicht nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch.“17 – Diese berühmten Worte Lenins zeigen, dass der Marxismus-Leninismus sehr wohl bereits derartige ideologische Werkzeuge besaß. Kim Jong Il log entweder wissentlich oder er hatte kaum marxistische Schriften in seinem Leben gelesen.

Kim Jong Il behauptete am 2. Oktober 1995: „Der PdAK gelang es, in der koreanischen kommunistischen Bewegung das Sektierertum und das Kriechertum zu überwinden und dem Eindringen von modernem Revisionismus und anderen Arten des Opportunismus konsequent Einhalt zu gebieten.“18 Anbetracht der Abkehr vom Marxismus-Leninismus unter Kim Jong Il, kann diese Aussage nur für die Ära Kim Il Sungs gelten.

Es ist nur von äußerst geringem Wert, dass Kim Jong Il am 25. Dezember 1995 schrieb: „Unsere Partei und unser Volk verehren Marx, Engels, Lenin und Stalin als Führer der Arbeiterklasse und schätzen ihre Verdienste hoch ein.“19 Er verwarf den Marxismus-Leninismus als Ideologie – was war eine solche Aussage dann noch wert? Das hat einen Beigeschmack von jenen bürgerlichen Philosophen, die allesamt von sich behaupten, sie würden Karl Marx „mögen“, obwohl sie den Marxismus verdammen. Kim Jong Il merkte außerdem an: „Kim Il Sung wandte schon früher den Marxismus-Leninismus schöpferisch auf die koreanische Revolution an. Er begründete in diesem Prozess die Juche-Ideologie und bahnte sich den Weg zur eigenen Entwicklung unserer Revolution.“20 An späterer Stelle behauptete Kim Jong Il, dass die Dschutsche-Ideologie „eigenschöpferisch“ sei, was er aber nie ernsthaft versuchte zu beweisen und auch hier nicht tut. Im Gegenteil, man sieht an dieser Aussage wieder einmal, dass die Dschutsche-Ideologie ursprünglich bloß Marxismus-Leninismus auf koreanische Verhältnisse angewandt gewesen ist. Kim Jong Ils Interpretation der Dschutsche-Ideologie ist also ein Baum ohne Wurzeln.

Kim Jong Il erklärte am 26. Juli 1996 den historischen Materialismus für „begrenzt“21 in einem Artikel. Eingangs schrieb er: „Bei der Erläuterung der Grundsätze der Juche-Philosophie orientieren sich manche Gesellschaftswissenschaftler noch nicht darauf, die eigenen Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Bewegung zu klären; stattdessen wollen sie die erwähnten Grundsätze von der Warte der allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten bei der Entwicklung der materiellen Welt aus erklären. Personen, die solche Ansichten vertreten, begründen ihre Behauptung mit der Absicht, verständlich machen zu wollen, dass die Juche-Philosophie auch die materialistische Dialektik des Marxismus auf neue Weise entwickelt habe. Bei der Erläuterung und Propagierung der Juche-Philosophie brauchen wir diese Überzeugungsarbeit aber nicht zu leisten. Unsere Partei verhielt sich freilich nicht dogmatisch zur materialistischen Dialektik des Marxismus, sondern studierte und analysierte sie von unserem Standpunkt aus und fügte einer Reihe von Fragen faktisch Neudeutungen hinzu.“22 Er lehnte es also ab, die Dschutsche-Ideologie auf dem dialektischen Materialismus fußen zu lassen.

Er schrieb außerdem: „Es ist unzulässig, den schöpferischen Charakter und die Überlegenheit dieser Philosophie anhand des von der marxistischen Philosophie ergründeten Wesens der materiellen Welt und der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ihrer Bewegung in Form einer Debatte beweisen zu wollen. Die Juche-Philosophie umriss neue philosophische Grundprinzipien und kann deshalb nicht im Rahmen der vorangegangenen Philosophie ausgelegt werden. Denn in diesem Fall wäre es unmöglich, den schöpferischen Charakter der Juche-Philosophie nachzuweisen und auch deren Wesen richtig zu verstehen; ein solches Vorgehen würde diesen Charakter im Gegenteil verschwommen machen.“23 Kim Jong Il ging also einer Debatte aus dem Weg. Die Wahrheit hat sich vor Argumenten nicht zu fürchten. Aus diesem Grund sind aus marxistischer Sicht ideologische Debatten zur Klärung wichtiger Fragen nicht nur erlaubt, sondern notwendig. Kim Jong Il wusste aber offensichtlich, dass er entweder nichts Neues zu bieten hatte oder bloß revisionistisches Gedankengut. Deshalb ließ er eine Beleuchtung der Dschutsche-Ideologie, wie er sie auslegte, unter dem Lichtschein des Marxismus nicht zu. Das ist ein Zeichen ideologischer Schwäche von Kim Jong Il.

Er versuchte außerdem den Menschen von den „gesellschaftlichen Verhältnissen“ und den „gesellschaftlichen Reichtümern“ zu trennen24. Natürlich kann man den „Menschen an sich“ (diesen Terminus verwendet Kim Jong Il so nicht, aber wird impliziert) betrachten, ohne die Gesellschaftsverhältnisse und deren „Reichtümer“ (offenbar ist der Produktionsprozess gemeint), aber was bleibt dort übrig? Kim Jong Il interpretiert in diesen Menschen, der sich somit in ideologisch luftleerem Raum befindet, Eigenschaften hinein, ohne sie zu beweisen. Der Mensch ist nicht getrennt von den Gesellschaftsverhältnissen und deren (Re-)Produktion zu verstehen.

Insgesamt ist dieser Artikel aus marxistischer Sicht ein revisionistisches Manifest zur offenen Abkehr vom dialektischen und historischen Materialismus, also dem philosophischen Kern des Marxismus. Damit war die ideologische Demontage des Marxismus durch Kim Jong Il aber noch nicht abgeschlossen.

Im März 2001 erklärte Kim Jong Il die marxistische Arbeitswerttheorie für „beschränkt“, was er damit zu begründen versuchte, dass durch die IT-Industrie die Mehrwerttheorie keine Gültigkeit mehr besitzen würde25. Offenbar ist für Kim Jong Il Mehrwerterzeugung nur mit dem Klischee eines Industriearbeiters aus dem 19. Jahrhundert möglich. Er erkennt nicht die verschiedenen Ebenen der gesellschaftlichen Reproduktion, durch die auch im „unproduktiven“ Sektor Mehrwert vorhanden ist.

Kim Jong Il bemühte sich nicht, seine Thesen zu belegen, sondern stellte einfach Behauptungen in den Raum. Seine Thesen sind somit bloße Behauptungen, die sich auf seiner Autorität gründen. Funktioniert so Wissenschaft? Wohl kaum! Seine Thesen sind unwissenschaftliches Geschwätz, das den Marxismus in den Dreck zieht, indem ihm „Beschränktheit“ unterstellt wird.

Kim Jong Il besuchte während eines Staatsbesuchs in Russland am 4. August 2001 auch das Lenin-Mausoleum und ließ einen Kranz niederlegen. Für ein sozialistisches Staatsoberhaupt ein gewöhnliches Verhalten. Die Schlussfolgerung der PdAK aus diesem Ereignis jedoch ist völlig überzogen:

Kim Jong Ils Besuch des Lenin-Mausoleums war eine mutige Entscheidung, die den für Sozialismus kämpfenden Revolutionären der ganzen Welt endlose Kraft und Schneid gab, und ein historisches Ereignis, das die feste Überzeugung davon bestärkte, dass die sozialistische Bewegung, wenn man einer Persönlichkeit wie Kim Jong Il folgt, unbedingt den Sieg davontragen wird.“26

Die Bedeutung des Ereignisses und vor allem der Person Kim Jong Ils werden ins Unermessliche übersteigert. Es handelt sich dabei um plumpe Hagiographie.

Als der damalige chinesische Präsident und Generalsekretär der KP Chinas Jiang Zemin am 3. September 2001 Pjöngjang besuchte, lobte Kim Jong Il in einem Gespräch das Dreifache Vertreten als eine „Parteilinie“ und „politische Maßnahme“, die auf die chinesischen Verhältnisse und das Streben des chinesischen Volkes angepasst sei27. Beim Dreifachen Vertreten handelt es sich um eine „Weiterentwicklung“ des Dengismus durch Jiang Zemin, also um eine revisionistische Ideologie. Am 5. Mai 2010 lobte Kim Jong Il gegenüber damaligen chinesischen Präsident und Generalsekretär der KP Chinas Hu Jintao dessen Wissenschaftliches Entwicklungskonzept, das ebenfalls auf dem Dengismus basiert, in ähnlicher Manier28. Entweder war Kim Jong Il ein kreidekauender Diplomat, der unter keinen Umständen bei China einen schlechten Eindruck hinterlassen wollte, oder er war tatsächlich ein Unterstützer der chinesischen Revisionisten. Ersteres ist wahrscheinlicher, wenn man seine sonstigen ideologischen Aussagen betrachtet. Dennoch sind diese Lobreden auf den chinesischen Revisionismus keine Ruhmesblätter.

Kim Jong Il wiederholte am 29. Januar 2003 in einem Gespräch diese Mär: „Die Beschränktheit der marxistischen revolutionären Theorie kam auch in der sozialistischen Gesellschaft, in der die Arbeiterklasse und die anderen werktätigen Volksmassen zu den Herren des Staates und der Gesellschaft geworden sind, deutlich zum Ausdruck. Da die herkömmliche Theorie, die sich auf die materialistische Geschichtsauffassung stützt, die Revolution als vollendet betrachtete, sobald die Arbeiterklasse die Macht ergriffen hat und sozialistische Produktionsverhältnisse entstanden sind, konnte sie weder den gesetzmäßigen Weg des sozialistischen Aufbaus nach dem Sieg der Revolution richtig darlegen noch insbesondere die Umformung des Menschen, die ideologische Revolution in der sozialistischen Gesellschaft erwähnen.“29 Er hätte weniger Reden und sich mehr mit der Theorie beschäftigen sollen, wenn eine ehrliche und ernsthafte Auseinandersetzung denn überhaupt möglich gewesen wäre (was er 1996 nachweislich ablehnte). Außerdem sprach Kim Jong Il wie ein westlicher bürgerlicher Philosoph, als er diese Worte sagte: „Die Theorien und Formeln, die Marx vor 150 Jahren aufstellte, können aber nicht der heutigen Wirklichkeit gerecht werden. Die Zeit ist weit fortgeschritten, und das soziale Milieu, die Klassenverhältnisse und die Lage der Arbeiterklasse haben sich stark verändert.“30 Die objektiven Gesetzesmäßigkeiten der Lohnarbeit und was damit zusammenhängt, werden hiermit als bloße Tagespolitik des 19. Jahrhunderts abgetan. Das ist, als würde man die Gesetze der Schwerkraft für veraltet erklären, nur weil Newton vor 350 Jahren lebte.

Zusammenfassend kann man sagen: Kim Jong Ils ideologische Ansichten sind mit dem Marxismus-Leninismus unvereinbar und stellen eine Form des Revisionismus dar. Er warf essentielle Bestandteile des Marxismus namentlich über Bord: den dialektischen und historischen Materialismus, die Arbeitswerttheorie und er unterstellte, dass der Marxismus-Leninismus über die ideologische Erziehung geschwiegen hätte. Da nützt es nichts, seine Geschenke von ausländischen Gästen und seine Orden sowie Medaillen aufzulisten. Die Mühlsteine seines Revisionismus wiegen deutlich mehr.

Unter Kim Jong Un wurde der Terminus „Kimilsungismus-Kimjongilismus“ geprägt für die offizielle Parteiideologie der Partei der Arbeit Koreas. Den ideologischen Kurs der Partei der Arbeit Koreas unter Kim Jong Un einzuschätzen ist bis heute schwierig, da Kim Jong Un zwar, offensichtlicherweise, als Politiker agiert, aber eben nicht als Ideologe. Er scheint aber an dieser Abkehr vom Marxismus-Leninismus nicht abzurücken, also den Kurs seines Vaters fortzuführen.

Auf dem VII. Parteitag der PdAK im Mai 2016 sagte Kim Jong Un: „Kim Jong Il ist ein hervorragender Führer, der die Ideen und die Sache von Kim Il Sung treu fortsetzte, die PdAK zu einer revolutionären Partei koreanischen Typs weiterentwickelte und die koreanische revolutionäre Sache auf den Weg zum Sieg führte.“31 Was soll man aus so einer Aussage entnehmen, außer, dass die koreanische Nation immer mehr betont wird?

Auf dem VIII. Parteitag der PdAK sprach Kim Jong Un am 12. Januar 2021 vom „Sozialismus unserer Prägung“32, also von einem „Sozialismus koreanischer Prägung“. Es gab damals Spekulationen, dass die DVRK damit nun den „Sozialismus chinesischer Prägung“ nachäffen, also den Kapitalismus restaurieren würde. Dies ist aber auch nicht geschehen.

Kim Jong Uns sonstige Reden enthalten, bestenfalls, ideologische Bruchstücke, wenn nicht gar übertriebene Aussagen. Im Juli 2018 sprach Kim Jong Un zum Beispiel davon, die DVRK in ein „kommunistisches Wunderland“ verwandeln zu wollen33. So eine Aussage klingt so lächerlich übertrieben, dass es an Peinlichkeit grenzt. Das Paradies auf Erden zu versprechen, statt einfach ein besseres Leben, also ein realistisches Ziel, ist nur dazu geeignet, die eigene Sache zu diskreditieren.

Am 12. Oktober 2023 schrieb Kim Jong Un in einem Brief an Putin anlässlich des 75. Jahrestages der bilateralen Beziehungen beider Länder davon, dass er hoffe, dass das russische Volk die „imperialistische Hegemoniepolitik“ und das „Anti-Russland-Schema“ durchbrechen werde34. Entweder benutzt Kim Jong Un den Imperialismusbegriff als bloße Rhetorikfloskel, um Russland diplomatisch zu gefallen, oder er sieht das imperialistische Russland tatsächlich nicht als einen imperialistischen Staat an, sondern nur die westlichen Länder unter Führung der USA. Im Falle von Letzterem würde das bedeuten, dass der Imperialismusbegriff aus Sicht der PdAK vulgarisiert und abgestumpft benutzt wird.

Da es keine Distanzierung von den revisionistischen Theorien Kim Jong Ils unter Kim Jong Un bisher gab (und sehr wahrscheinlich nie geben wird) kann man die Partei der Arbeit Koreas als keine ideologisch vollwertige Schwesterpartei betrachten. Das heißt nicht, dass keinerlei Beziehungen zur PdAK möglich wären, aber, dass man ideologisch betrachtet kritischen Abstand halten sollte.

1 Siehe dazu bspw.: „Rechenschaftsbericht des ZK der Partei der Arbeit Koreas an den IV. Parteitag“ (11. September 1961) In: Kim Il Sung „Werke“, Bd. 15, Verlag für fremdsprachige Literatur, Pjongjang 1983, S. 166.

Über die Erziehung der Funktionäre de Landwirtschaft zu revolutionären Eigenschaften und über die Verbesserung der Anleitung der Landwirtschaft“ (1. Februar 1962) In: Kim Il Sung „Werke“, Bd. 16, Verlag für fremdsprachige Literatur, Pjongjang 1984, S. 66.

Zu einigen Aufgaben in der Parteiarbeit und der Wirtschaftstätigkeit“ (3. Januar 1963) In: Kim Il Sung „Werke“, Bd. 17, Verlag für fremdsprachige Literatur, Pjongjang 1984, S. 22.

2 Vgl. „Hans Maretzki „Kim-ismus in Nordkorea“, Anita Tykve Verlag, Böblingen 1991, S. 68.

5 „Einige Probleme zum Verständnis der Juche-Philosophie“ In: Kim Jong Il „Die Juche-Philosophie – Eine schöpferische revolutionäre Philosophie“, Verlag für fremdsprachige Literatur, Pyongyang 2023, S. 1 (E-Book).

6 Ebenda, S. 10.

8 „Der Sozialismus – Das Leben unseres Volkes“ (14. November 1992) In: Kim Jong Il „Ausgewählte Werke“, Bd. 13, Verlag für fremdsprachige Literatur, Pyongyang 2009, S. 237 (E-Book).

9 Kim Il Sung „Der Sozialismus unseres Landes ist von koreanischer Prägung“ (16. April 1994), Verlag für fremdsprachige Literatur, Pyongyang 2021, S. 8 (E-Book).

http://www.korean-books.com.kp/KBMbooks/de/work/leader1/20210313142410.pdf

10 „Der Sozialismus in eine Wissenschaft“ (1. November 1994) In: Kim Jong Il „Ausgewählte Werke“, Bd. 13, Verlag für fremdsprachige Literatur, Pyongyang 2009, S. 468 (E-Book).

11 Ebenda.

12 Ebenda, S. 472.

13 Vgl. „Einige Fragen zur Umsetzung des Kurses der Partei auf die bevorzugte Entwicklung des Außenhandels“ (1. Februar 1995) In: Kim Jong Il „Ausgewählte Werke“, Bd. 14, Verlag für fremdsprachige Literatur, Pyongyang 2010, S. 8 (E-Book).

14 „Die ideologische Arbeit in den Vordergrund stellen – Ein unumgängliches Erfordernis der Verwirklichung des sozialistischen Werkes“ (19. Juni 1995) In: Ebenda, S. 54.

15 Ebenda, S. 55/56.

16 Ebenda, S. 51.

17 „Konspekt zu Hegels ´Wissenschaft der Logik´“ In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 38, Dietz Verlag,

Berlin 1973, S. 203.

18 „Die Partei der Arbeit Koreas – Die Partei des großen Führers Genossen Kim Il Sung“ (2. Oktober 1995) In: Kim Jong Il „Ausgewählte Werke“, Bd. 14, Verlag für fremdsprachige Literatur, Pyongyang 2010, S. 91 (E-Book).

19 „Die revolutionären Vorkämpfer verehren – Eine heilige moralische Pflicht der Revolutionäre“ (25. Dezember 1995) In: Ebenda, S. 124.

20 Ebenda, S. 125.

21 „Die Juche-Philosophie ist eine schöpferische revolutionäre Philosophie“ (26. Juli 1996) In: Ebenda, S. 198.

22 Ebenda, S. 191.

23 Ebenda, S. 192/193.

24 Vgl. Ebenda, S. 201.

25 Vgl. „Das neue, das 21. Jahrhundert – Ein Zeitalter der IT-Industrie“ (11. März 2001) In: Kim Jong Il „Ausgewählte Werke“, Bd. 15, Verlag für fremdsprachige Literatur, Pyongyang 2011, S. 115 (E-Book).

26 „Episoden aus dem Leben Kim Jong Ils“, Bd. 1, Verlag für fremdsprachige Literatur, Pyongyang 2013, S. 91/92 (E-Book).

29 „Die Linie der Songun-Revolution – Eine große revolutionäre Linie unseres Zeitalters und das stets siegreiche Banner unserer Revolution“ (29. Januar 2003) In: Kim Jong Il „Ausgewählte Werke“, Bd. 15, Verlag für fremdsprachige Literatur, Pyongyang 2011, S. 366 (E-Book).

30 Ebenda, S. 365.

31 Kim Jong Un „Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der Partei der Arbeit Koreas an den VII. Parteitag“ (6.-7. Mai 2016), Verlag für fremdsprachige Literatur, Pyongyang 2016, S. 28 (E-Book).

32 Siehe: Kim Jong Un „Abschlussrede auf dem VIII. Parteitag der Partei der Arbeit Koreas“ (12. Januar 2021), Verlag für fremdsprachige Literatur, Pyongyang 2021, S. 1 (E-Book).

33 https://web.archive.org/web/20190220040935/http://rodong.rep.kp/en/index.php?strPageID=SF01_02_01&newsID=2018-07-10-0001 (Englisch) „Fairyland“ heißt wortwörtlich „Feenland“; die Übersetzung mit „Wunderland“ gibt den Sinn besser wieder.

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