Arbeitszeit versus Arbeitsproduktivität – Hilft viel tatsächlich viel?

Die GDL hat im Tarifkonflikt gesiegt: Die 35-Stunden-Woche ist errungen1. Verdi setzte bei der Hamburger Hochbahn eine 37-Stunden-Woche Anfang März 2024 durch2, während Verdi in Hessen im Nahverkehr seit dem Sieg der GDL ebenfalls eine 35-Stunden-Woche fordert3. Aufgrund dessen laufen Liberalen und Konservative bereits Sturm gegen das Streikrecht und Unternehmensvertreter sehen den „Standort Deutschland gefährdet“, weil durch eine geringere Arbeitszeit die wirtschaftliche Lage sich zuspitzen würde. Ist dem wirklich so? Die bürgerliche Seite ist dazu sich auch nicht einig.

Es ist klar, dass die Bourgeoisie tendenziell ein Interesse daran besitzt, den Arbeitstag so lange wie möglich andauern zu lassen und diesen so niedrig wie möglich zu bezahlen. Aber selbst auf bürgerlicher Seite ist mittlerweile die Erkenntnis aufgekommen, dass die Produktivität in Stunde 1 nicht identisch ist mit der in Stunde 84.

Es ist auch so, dass mehr Arbeitszeit nicht unbedingt eine höhere Produktivität bedeutet. Die Hans-Böckler-Stiftung zeigte bereits 2007 statistisch anhand von Daten aus dem Jahre 2005 auf, wie innerhalb Europas eine Diskrepanz zwischen Arbeitszeit und Produktivität besteht. Während das Schlusslicht Bulgarien im Durchschnitt eine Wochenarbeitszeit von 40,7 Stunden besaß und eine Produktivität von 30,4% des EU-Durchschnitts besaß, besaß Deutschland eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 34,4 Stunden und eine Produktivität von 110,0% des EU-Durchschnitts. Nicht einmal die Länder, die sich um den EU-Durchschnitt bewegten, konnte man in der Arbeitsproduktivität in Zeit direkt gleichsetzen. Die Wochendurchschnittsarbeitszeit in Österreich betrug 37,7 Stunden und die Produktivität 99,3% des EU-Durchschnitts, während Schweden bei 35,6 durchschnittlichen Wochenarbeitszeitstunden eine Produktivität von 101,6% des EU-Durchschnitts erreichte5. Kurzum: Man kann in Bulgarien die niedrigere Produktivität vielleicht noch auf technische Rückständigkeit zurückführen wollen, der Unterschied zwischen Österreich und Schweden dürfte in dieser Hinsicht aber kaum ausschlaggebend sein. Das waren Zahlen von 2005.

Auch Daten von 2018 zeigen dasselbe: In Deutschland liegt die stündliche Arbeitsproduktivität bei 34,9 Stunden pro Woche bei 127,2% des EU-Durchschnitts, während die Niederlande bei 31,8 Stunden pro Woche eine Arbeitsproduktivität 126,3% pro Stunde besitzt6. Auch gibt es noch Länder, die bei höherer Arbeitszeit eine niedrigere Produktivität aufweisen mit Bulgarien unverändert als Schlusslicht.

Hilft viel also viel? Nicht unbedingt. Es dürfte klar sein, dass es unmöglich wäre, in zwei Stunden die selbe Leistung zu erbringen wie in sechs oder gar acht Stunden. Der Unterschied zwischen sechs, sieben und acht Stunden ist aber jedoch gar nicht so groß, wie man intuitiv vermuten würde. Die Linkspartei fordert die Viertagewoche bei 32 Stunden Arbeitszeit7. Es gibt auch Modelle, bei denen werden die 40 Stunden Arbeitszeit bloß auf die vier Arbeitstage umgelegt – also zehn Stunden Arbeit pro Tag. Über den Sinn eines solchen Modells lässt sich streiten. Bisher scheint die Viertagewoche bei 32 Stunden und 100%iger Arbeitsleistung Studien zufolge zumindest positive Ergebnisse zu liefern8.

Man mag sagen, dass dies nicht für jede Berufsgruppe möglich wäre. Das wäre nicht richtig. Richtiger wäre es, dass dadurch ein erhöhter Personalaufwand zur Füllung der Arbeitsstunden notwendig würde. Diesen könnte man durch eine erhöhte und forcierte Automatisierung versuchen zu erreichen. Langfristig hilft natürlich nur eine Erhöhung der Geburtenrate, aber deren Auswirkungen lassen mindestens zwei Jahrzehnte auf sich warten, selbst wenn diese just in diesem Moment ausgeglichen werden würde. Abgesehen davon würde eine reduzierte Arbeitszeit für alle Werktätigen auch die Notwendigkeit längerer Öffnungszeiten senken. Abgesehen davon gibt es Arbeitslose, die man theoretisch noch nutzen könnte (was nur in einer Planwirtschaft funktionieren würde, da der Kapitalismus einen Reservepool an Arbeitslosen benötigt). Die offizielle Arbeitslosenquote betrug 2023 5,7% oder 2,6 Millionen Menschen9. Diese Quote umfasst aber nicht jene, die in ABM-Maßnahmen, Nachqualifizierungsmaßnahmen et cetera „geparkt“ sind. Diese fallen unter den euphemistischen Terminus „Unterbeschäftigung“. Diese machten im Jahre 2020 824.000 Menschen aus10. Hinzu kommt noch, dass so viele Deutsche arbeiten wie noch nie. Während 1991 38,7 Millionen Deutsche erwerbstätig waren, waren es 2019 45,3 Millionen11. Andererseits muss man den Anstieg des Durchschnittsalters der Bevölkerung berücksichtigen – den euphemistisch betitelten „demographischen Wandel“, den man eigentlich „Aussterben auf Raten“ oder simpel „Nachwuchsmangel“ nennen müsste. Die Frage ist volkswirtschaftlich komplexer als sie dargestellt wird – sowohl von konservativ-neoliberalen Rattenfängern, die in völliger Übereinstimmung mit den Interessen der Kapitalisten jegliche Arbeitszeitreduktion ablehnen als auch jene, die eine Arbeitszeitreduktion fordern ohne ein Konzept in der Tasche zu haben, wie diese zu kompensieren ist.

Die konkreten Proportionen müsste man also ausloten und ausrechnen; man kann nicht Behauptungen in die Welt setzen. Beim Mindestlohn zum Beispiel schweben ein Jahrzehnt nach dessen Einführungen noch immer längst widerlegte Mythen von dessen angeblicher „Schädlichkeit“ im Raum12. In ähnlichem Stil wird die Debatte der Viertagewoche derzeit geführt.

Es wäre sicherlich wirtschaftlich keine Utopie, einen Sechsstundentag anzustreben. Im Kapitalismus ist dies aber keine mögliche Forderung. Stalin sah bereits im Jahre 1952 die Notwendigkeit zur Arbeitszeitreduktion im Sozialismus, langfristig sogar hinunter auf lediglich fünf Stunden Arbeitszeit:

Es wäre falsch, wollte man glauben, ein so bedeutsames kulturelles Wachstum der Mitglieder der Gesellschaft könne ohne ernste Veränderungen in der gegenwärtigen Lage der Arbeit erreicht werden. Dazu ist es vor allem notwendig, den Arbeitstag mindestens bis auf sechs und später bis auf fünf Stunden zu verkürzen. Das ist notwendig, damit die Mitglieder der Gesellschaft genügend freie Zeit erhalten, um eine allseitige Bildung zu erwerben.“13

Das ist ein Problemfeld, mit dem sich die sozialistischen Staaten nicht genügend beschäftigt haben. Natürlich führte die DDR 1967 die Fünftagewoche ein und reduzierte damit die Arbeitszeit; die BRD tat dies zur selben Zeit auch. Es wurde aber nicht genügend darauf geschaut, dass eine Arbeitszeitreduktion langfristig notwendig ist, um die Werktätigen weiterzubilden – beruflich, politisch und kulturell gleichermaßen. Es wäre nicht schlecht, wenn man mehr Zeit zur Verfügung hätte, sich als Mensch zu entwickeln, denn die sozialistische Gesellschaft kann nur dadurch erhalten, gefestigt und entwickelt werden von Menschen, die ein höheres Bildungs- und Kulturniveau besitzen als unter kapitalistischen Verhältnissen. Dazu bräuchte es Angebote, bei denen man noch mal die Schulbank drücken muss, um sich weiterzuqualifizieren, aber auch passende Angebote, um sich kulturell zu betätigen – sei es musikalisch, durch die Teilnahme an einem Fremdsprachenkurs oder sonstigen erbaulichen Tätigkeiten – und auch für mehr politische und ehrenamtliche Aktivität. Ziel ist es natürlich nicht, dass die zusätzliche verfügbare Freizeit lediglich in den Konsum von Streamingdiensten fließt.

Man muss sich vor Augen führen: Der Achtstundentag ist über ein Jahrhundert alt, die Fünftagewoche über ein halbes Jahrhundert. Seitdem hat sich die Arbeitsproduktivität durch Automatisierung massiv erhöht auf ein Maß, welches für diesen Planeten nicht mehr nachhaltig tragbar ist. Aber über eine Arbeitszeitreduktion auf gesamtgesellschaftlicher Ebene wird heutzutage kaum nachgedacht – abgesehen vom kürzlichen Vorstoß der GDL.

Dabei wäre es jetzt an der Zeit, gemeinsam über dieses Thema nachzudenken.

13 „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ (Februar – September 1952) In: J. W. Stalin „Werke“, Bd. 15, Verlag Roter Morgen, Dortmund 1979, S. 360.

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