Der goldene Grundsatz der Ethik – Politisch relevant oder irrelevant?

Was du nicht willst was man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“1

Dieses Sprichwort ist gemeinhin als Goldene Regel der Ethik bekannt. Man findet diesen Grundsatz in vielen philosophischen und religiösen Schriften in den verschiedensten Kulturen an verschiedenen Orten. Darwins Gedanke, dass es zwar keinen Beweis dafür gibt, dass der Monotheismus vom Anbeginn der Menschheit der Glaube gewesen sei, es aber Religion selbst unter den „unzivilisierten Menschen“ zu finden sei2, scheint dadurch Anhaltspunkte zu liefern. Zumindest, wenn man Religion als eine Sammlung von ethisch-moralischen Axiomen betrachtet.

Konfuzius sprach die Goldene Regel in der Weise aus, wie sie allgemein bekannt ist: „Was du selbst nicht wünschest, das tue nicht den Menschen an.“3 Natürlich war diese bereits in Europa vorher bekannt, bevor die Gespräche des Konfuzius übersetzt worden sind.

Im Alten Testament steht die Goldene Regel nicht wörtlich geschrieben, aber diese ist laut dem Talmud die Folge aus den Lehren des Alten Testaments. Die Nächstenliebe ist nämlich festgeschrieben im 3. Buch Mose: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“4 Aus dieser Nächstenliebe heraus leitet sich wohl die Goldene Regel ab. Rabbi Akiwa lehrte: „Was dir selbst nicht recht wäre, das füge auch deinem Nächsten nicht zu.“5 Dies sei die „Grundregel der Tora“.

Im Christentum ist die Goldene Regel bekannt in der positiven Formulierung durch Jesus. Diese ist an zwei Stellen belegt.

Bei Lukas: „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!“6

Bei Matthäus: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“7

Der Nachsatz bei Matthäus weist durchaus auf die talmudische Auslegung des Alten Testaments hin. Daran kann man durchaus ersehen, dass das Christentum aus einer Strömung des Judentums erwachsen ist und kein „völliger neuer Glaube“ ist. Jesus wird von Petrus auch als Rabbi bezeichnet8 und soll bereits als zwölfjähriger im Jerusalemer Tempel mit den Gelehrten gesprochen haben9. Er kannte also die Argumentationslinien innerhalb des jüdischen Glaubens.

Im Islam gilt die Goldene Regel nur unter Muslimen. In der Hadithsammlung al-Buchari steht geschrieben: Keiner von euch hat den Glauben, bis ihr für euren Bruder wünscht, was ihr für euch selbst wollt.“10 Mit „Bruder“ ist hier ein muslimischer Glaubensbruder gemeint. Es ist keine universelle Regel, wie im Konfuzianismus, Judentum und Christentum. Selbst im polytheistischen Hinduismus gilt die Goldene Regel für alle. Damit ist dessen Ethik dem Islam überlegen.

Im hinduistischen Buch Mahabharata steht geschrieben:

Man sollte anderen niemals etwas antun, was einen selbst verletzen könnte.“11

Jedes Wesen, was du verletzt, wendet sich irgendwann gegen dich selbst und verletzt dich ebenfalls. Und jedes Wesen, dem du hilfst, wendet sich irgendwann zu dir selbst und wird auch dir helfen. Das solltest du bei allen Taten stets beachten.“12

Der Hinduismus verbindet die Goldene Regel mit karmischer Kausalität: Tue Böses und dir widerfährt Böses; tue Gutes und die widerfährt Gutes.

Die Formulierungen von Konfuzius und Rabbi Akiwa sagen im Kern aus, dass man alles tun darf, was dem Gegenüber nicht schadet. Die Formulierung von Jesus sagt im Kern, dass man seinem Gegenüber so gut helfen soll, wie man sich selbst helfen würde. Mohammeds Formulierung ist ein Fall von Egoismus unter einer bestimmten Religionsgruppe. Da der Koran dazu aufruft, Andersgläubige zu töten13, kann er auch nicht an Andersgläubige mit Nächstenliebe herantreten. Der Hinduismus kombiniert die Aussagen von Konfuzius, Rabbi Akiwa und Jesus.

Die hinduistische Formulierung ist also am umfassendsten und verdeutlicht die Konsequenzen des Handelns. Abgesehen von der karmischen Verstrickung, die dahintersteckt, mag man dies als eine Binsenweisheit abtun. Gewissermaßen stimmt das.

Die Goldene Regel ist ein absolut simples und grundlegendes Axiom der Ethik. So einfach wie es ist, so einfach ist es in der Praxis auch zu missachten. Nehmen wir dafür das Christentum als Beispiel. Die Folge aus Jesu Ausspruch ist, dass man gute Werke vollbringen soll. Paulus machte dies in seinem Brief an Titus auch deutlich:

Aber auch die Unseren sollen lernen, sich hervorzutun mit guten Werken, wo es nötig ist, damit sie nicht fruchtlos bleiben.“14

Schaut man sich aber auf der Welt und in der Weltgeschichte um, so kann man von der Mehrheit der Christen nicht behaupten, dass sie sich daran gehalten haben und sich auch derzeit nicht halten. Schon zu Paulus´ Zeit war dem so. Gegenüber Titus beschwerte er sich über einige:

Sie beteuern, Gott zu kennen, aber mit den Werken verleugnen sie ihn; ein Gräuel sind sie und ungehorsam und zu allem guten Werk untüchtig.“15

Diese Heuchelei im Glauben ist es auch, die von der Katholischen Kirche im Besonderen, aber auch von der Evangelischen Kirche vertreten wird. Aus diesem Grund gelten diese oftmals nicht einmal für die gläubigen Mitglieder als eine reale ethisch-moralische Autorität. Die Kirchen sind wie ein Kettenraucher, der über die negativen Konsequenzen des Rauchens referiert – unglaubwürdig.

Man kann meinen, dass Fragen der Ethik keinerlei politische Relevanz besäßen. Das wäre vom Standpunkt der bürgerlichen Politiker, diesem Pack von Demagogen aus gesehen auch zutreffend. Vom sozialistischen Standpunkt jedoch kann es nicht das Ziel sein, die Massen für einen kurzfristigen Benefit naszuführen. Unser Ziel ist es, sie zu überzeugen und als langfristige Anhänger und Verbündete zu gewinnen. Dies geht aber nur, wenn wir reflektiert sind über unsere eigenen Methoden. Wäre die Frage der Ethik unter den Genossen nicht auch eine politische und ideologische Frage, so wäre Ho Chi Minhs Werk über die charakterlichen Anforderungen an einen Revolutionär umsonst gewesen16. Um noch ein biblisches Wort zu bemühen: „Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot.“17 Ohne Weltanschauung geht es nicht, aber auch nicht ohne Taten. Man muss Stalins Hinweis zur Theorie und Praxis in diesem Kontext nicht einmal bemühen18, denn es ist eine ethisch-moralische Frage. Dennoch verhält es sich ähnlich. Man muss aus theoretischer Ethik angewandte Ethik machen. Zwei alltägliche Beispiele:

Wir wollen nicht angeschrien werden, wenn wir eine Meinung äußern, die nicht genehm ist – sollten wir also andere anschreien? Nein. Es ist etwas anderes, wenn der Klassenfeind uns in Debatten zuerst unflätig attackiert. Ist dem aber nicht so, sollten wir die Ruhe bewahren und unsere Standpunkte nüchtern und sachlich vermitteln. In den Augen der Massen hat derjenige zuerst verloren, der zuerst der Tobsucht verfällt. Wenn in den Massen falsche Meinungen geäußert werden, so nützt es wenig, diese offen oder unterschwellig als „Blödmann“ zu beschimpfen. Das überzeugt niemanden, sondern lässt uns abstoßend und überheblich erscheinen. „Einen Älteren fahre nicht an, sondern ermahne ihn wie einen Vater, die jüngeren Männer wie Brüder, die älteren Frauen wie Mütter, die jüngeren wie Schwestern, mit allem Anstand.“19, schrieb Paulus an Timotheus. So in etwa sollten wir es auch tun. Menschen sind keine Computer, denen man einen USB-Stick in den Kopf schieben kann, um die gewünschten Dateien hochzuladen. Wir brauchen Geduld und ein ruhiges Gemüt deshalb.

Wir wollen nicht belogen werden, sollten wir also andere belügen? Nein. Gegenüber dem Klassenfeind darf man durchaus lügen – er ist uns gegenüber auch nicht ehrlich. Den Massen gegenüber darf man aber niemals lügen, erst recht nicht über eigene Mängel und Fehler. Die Massen wissen oft besser bescheid als wir selbst, wie die Lage an der Basis aussieht. Lenin sagte: Dem Volke muß man die Wahrheit sagen. Nur dann werden ihm die Augen aufgehen, und es wird lernen, die Unwahrheit zu bekämpfen.“20 Dies ist nur ein Beispiel von vielen möglichen, die die Anwendung der Goldenen Regel in der Praxis betreffen. Generell geht es darum, vor den Massen vor allem authentisch zu sein und mit ihnen Leid und Wehe durchzustehen. Natürlich sind unsere materiellen Mittel begrenzt, aufgrund unserer geringen Anzahl sogar sehr, aber dennoch kann man nicht so tun, als sei politische Arbeit bloß ein Vortrag über die Geschichte der sozialistischen Staaten. Das wäre Kathedersozialismus. Bei der Klassenbasis, die wir haben, ist politische Arbeit oftmals unweigerlich „rote Sozialarbeit“. Die praktische Tat überzeugt oft mehr als ein noch so richtiger Monolog über theoretische Notwendigkeiten. Dessen sollten wir uns bewusst sein. Menschen lernen eher am Modell als durch Kognition. Das heißt, Menschen sind eher geneigt einem positiven Vorbild nachzueifern, als dass sie durch eigenständige Erkenntnis durch Wissen sich selbst in ein solches verwandeln. Menschen machen also eher einem etwas nach, als dass sie von sich aus anfangen, etwas zu tun, was sie sich erlesen haben. Die effektivste politische Agitation findet nicht dadurch statt, dass man auf jemanden einredet, sondern indem man mit dieser Person eine Beziehung pflegt, mit welcher positive Ereignisse und Erlebnisse verbunden sind – zum Beispiel, indem man jemanden hilft und ihn nebenbei auf die grundlegenden Ursachen seiner Probleme aufmerksam macht. Dadurch weckt man vor allem ein natürliches Interesse an unserer Sache, welches man dann nicht wie ein Missionar rein von außen herantragen muss.

Natürlich sind diese Ausführungen keine Neuheiten, sie sind alltagsphilosophisch, beinahe schon trivial. Und obwohl sie so einfach sind, so lassen sich gerade diese ethischen Überlegungen allzu häufig vermissen unter Genossen – es mangelt an Empathievermögen. Dies ist aber keine persönliche Schuld, sondern den gesellschaftlichen Umständen geschuldet. Es ist schwierig, gegen den Strom zu schwimmen, aber tut man es nicht, ertrinkt man im Meer. In diesem Falle im Meer der bürgerlichen Umgangsformen – der Sorglosigkeit.

Hoffentlich können diese Gedanken einen Anstoß zur Selbstreflexion geben.

1 In dieser Form bekannt aus der Lutherübersetzung von Tobit 4, 15.

2 Vgl. Charles Darwin „Die Abstammung des Menschen“, Nikol Verlag, Hamburg 2021, S. 117.

4 3. Mose 19, 18.

5 „Geschichten aus dem Talmud“, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1985, S. 270.

6 Lukas 6, 31.

7 Matthäus 7, 12.

8 Siehe: Markus 11, 21.

9 Siehe: Lukas 2, 46-47.

12 Ebenda.

13 Z. B. Sure 9, 5.

14 Titus 3, 14.

15 Titus 1, 16.

16 Siehe: „Der revolutionäre Charakter“ (18. September 1926) In: „Selected Works of Ho Chi Minh“, Vol. I, Foreign Languages Press, Paris 2021, S. 365 f, Englisch.

17 Jakobus 2, 26.

18 Siehe: „Über die Grundlagen des Leninismus“ (April/Mai 1924) In: J. W. Stalin „Werke“, Bd. 6, Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 79.

19 1. Timotheus 5, 1-2.

20 „Ein trauriges Dokument“ (16. Mai 1917) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 24, Dietz Verlag, Berlin 1989, S. 338.

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