Der Marxismus und die Naturwissenschaften

Es soll in diesem Aufsatz nicht um eine Darlegung der Naturwissenschaften in populärwissenschaftlicher Weise gehen. Dazu fehlt mir allein ausreichendes Fachwissen, dies in angemessener Weise zu tun. Es soll stattdessen um die Bedeutung der Naturwissenschaften für den Marxismus gehen. Bekannt dürfte sein, dass schon Engels mit seiner „Dialektik der Natur“ den Naturwissenschaften aus Sicht des dialektischen Materialismus Aufmerksamkeit schenkte und nachwies, dass der Marxismus nicht ausschließlich eine gesellschaftswissenschaftliche Lehre ist.

Mao sagte: Der Marxismus beinhaltet die Naturwissenschaft und jeder sollte anfangen, die Naturwissenschaft zu studieren. Ansonsten kann man nicht als hervorragender Revolutionär bezeichnet werden, da es so viele Dinge in dieser Welt gibt, die man nicht versteht.“1 Das stimmt vollkommen. Man kann zwar auch ohne ein grundlegendes Verständnis der Naturwissenschaften die Gesellschaft umwälzen, aber man wird vom Sachverständnis an letzter Stelle stehen, wenn es um nicht-gesellschaftliche Angelegenheiten, wie etwa die der Technik, geht. Der biblische Spruch „Macht die Erde euch untertan.“2 funktioniert in der Praxis nur, wenn der Mensch in der Lage ist, technische Hilfsmittel herzustellen, um die Welt nutzbar zu machen. Die technische Innovation erwächst aus den Naturwissenschaften.

Gerhard Harig hob die große Bedeutung der Naturwissenschaft für die sozioökonomische Entwicklung besonders hervor: „Die Naturwissenschaft ist durch ihren Gegenstand mit der Produktion und den Produktivkräften, durch ihre Begriffe, Methoden und Theorien aber ebenso eng mit der Philosophie verbunden. Ihre Grundbegriffe wie Raum und Zeit, Materie und Bewegung sind zugleich philosophische Kategorien.“3 Einerseits entwickeln die Naturwissenschaften das Potential der Produktivkräfte weiter, andererseits folgen aus ihren Erkenntnissen Schlussfolgerungen auf philosophischem Gebiet. Für Letzteres ist „Die Dialektik der Natur“ von Friedrich Engels ein passendes Beispiel. Die dialektische Gesetzmäßigkeit des Umschlagens von Quantität und Qualität ineinander ist für den naturwissenschaftlichen Gebrauch wohl am bedeutsamsten. Engels schreibt: „Gesetz vom Umschlagen von Quantität in Qualität und umgekehrt. Dies können wir für unsern Zweck dahin ausdrücken, daß in der Natur, in einer für jeden Einzelfall genau feststehenden Weise, qualitative Änderungen nur stattfinden können durch quantitativen Zusatz oder quantitative Entziehung von Materie oder Bewegung (sog. Energie).“4 Anschließend führte er als Beispiel die Aggregatzustände an. Ein alltägliches Beispiel dafür: Bei Zimmertemperatur von 20 Grad Celsius ist Wasser flüssig. Verringert man die Temperatur auf 0 Grad Celsius, so ist eine Quantität erreicht worden, die sich in einer neuen Qualität ausdrückt: Das Wasser wird fest und erstarrt zu Eis. Erhitzt man Wasser auf 100 Grad Celsius, so erreicht man ebenfalls durch die Hinzufügung von Quantität an Wärme eine neue Qualität: Das Wasser wird gasförmig und somit zu Dampf. Die Gegenprobe um mit der Qualität auf die Quantität zu schließen bedeutet, zu schlussfolgern, wenn man Eis sieht, dass es weniger als 0 Grad Celsius besitzt und bei Dampf, dass dieser um mehr als 100 Grad Celsius erhitzt worden ist. Siedepunkt und Gefrierpunkt variieren je nach Stoff, sie lassen sich also nicht analog übertragen. Das angeführte Beispiel schneidet die Bereiche Chemie und Physik.

Auf dem Gebiet der Physik beschäftigte sich Gerhard Harig mit der Bedeutung der marxistischen Philosophie für diesen Fachbereich. Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“ hat es ihm besonders angetan. Der Grund dafür ist, dass sich Lenin in diesem Werk mit der Frage des dialektischen Materialismus in der Physik auseinandersetzt5. „Von der Philosophie her wird die Physik, wie alle Naturwissenschaften, besonders durch die zeitgenössische Erkenntnistheorie beeinflußt. Die Physik untersucht ja nicht okkulte, metaphysische, religiöse Dinge und Vorgänge, sondern die Natur und ihre Eigenschaften. Es ist ihr Ziel, die Tatsachen und Gesetze der Natur zu erkennen. Deswegen gehört das Problem der Existenz und Erkennbarkeit der Natur zu den fundamentalen der Naturwissenschaften.“6, schrieb Gerhard Harig. Durch das Verständnis des dialektischen Materialismus ist es besser und schneller möglich, Gesetzesmäßigkeiten zu erkennen und anzuwenden zu lernen. Es gab aber eine Periode in der Physik, in welcher mit dem mechanische Materialismus der Materialismus als Ganzes über Bord geworfen und durch den Idealismus ersetzt wurde7. Ernst Mach, der von der Physik aus zur Philosophie kam8, und weitere bekannte Physiker der Jahrhundertwende bekannten sich zum „Physikalischen Idealismus“9. Trotz ihrer wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der Physik war ihre philosophische Weltanschauung verkehrt. Das bildete einen Hemmschuh in der Entwicklung der Physik. „Die moderne Physik entwickelt sich wirklich, wie Lenin vorausgesagt hat, nicht bewußt, sondern instinktiv, lastend, schwankend, manchmal sogar mit dem Rücken voran. Gerade deshalb ist das Leninsche Werk, ist der dialektische Materialismus heute von so fundamentaler und aktueller Bedeutung für die Physik. Es ist die Aufgabe der Marxisten, den Materialismus, der heute unbewußte Grundlage der Physik ist, zu ihrer bewußten Grundlage zu machen. Nur so wird der Boden gefunden, auf dem die Wissenschaft Physik in Zukunft weitergebaut werden muß.“10, schlussfolgerte Gerhard Harig. Die Vorstöße der Wissenschaft auf dem Gebiet der Physik sollen dadurch effektiver werden, dass die Physiker von der Notwendigkeit des dialektischen Materialismus und den Mäkeln des Idealismus überzeugt werden.

Es ist aber wenig geholfen, an die Physik nur aus Sicht der marxistischen Philosophie heranzugehen. Die Theorie muss sich in der Praxis widerspiegeln. „Die Physik ist in erster Linie eine Experimentalwissenschaft.“11, verdeutlicht Walter Lewin. Dieser Ausspruch kann als sein Lehrmotto gelten. So führte er in seiner Abschiedsvorlesung am 16. Mai 201112 eine Reihe von anschaulichen Experimenten zu physikalischen Grundsätzen durch. Er verzichtet dabei bis auf einige essentielle Rechnungen auf die komplexe Mathematik hinter den Versuchen. Walter Lewins Kredo gegenüber Studenten ist folgendes: „Auf diese Weise war ich stets bemüht, die Physik für meine Studenten lebendig zu machen. Ich war überzeugt, es sei weit wichtiger für sie, sich an die Schönheit von Entdeckungen zu erinnern, als sich auf die komplizierte Mathematik zu konzentrieren – schließlich werden die meisten von ihnen keine Physiker.“13 Wichtig ist es ihm auch, dass man nicht bloß Themen abdeckt, sondern vor allem physikalische Gesetze aufdeckt und aufzeigt, dass Physik in allem steckt14. Man kann sagen, dass Walter Lewin die Wissensvermittlung auf ihren konkreten Nutzeffekt herunterbricht. Ist man ein theoretischer Physiker, so benötigt man natürlich die mathematischen Analysen der physikalischen Phänomene. Aber wenn man das nicht ist – wer käme auf die Idee, statt die physikalischen Gesetze intuitiv zu nutzen, stattdessen sich hinzusetzen und lange Rechenaufgaben zu lösen? Lewin erkennt richtig, dass es in erster Linie darauf ankommt, die Gesetze der Physik in der Praxis zu verstehen. Er geht vom Konkreten ins Abstrakte. Physik als Schulfach ist pure mathematische Abstraktion auf junge Hirne, denen noch viele physikalische Begebenheiten unbekannt sind. Statt anhand von Experimenten einem ein Stück der materiellen Welt näherzubringen, ist dieses Schulfach zumeist nichts anderes als „Mathematik in sehr schwer“. Zhang Zai sagte einst: „Wer Menschen lehrt, muß erkennen, was schwierig und was einfach ist für das Ziel des Lernens.“15 Im Lehrplan scheint diese Erkenntnis völlig zu fehlen, während Walter Lewin diese beherzigt. Das ist es auch, wieso seine Experimente unvergessliche Eindrücke hinterlassen.

Das eindrucksvollste Experiment, das Lewin durchführte, ist jenes, in welchem er an die Wand gelehnt ein Pendel von seinem Kinn starten lasst, was seinen Schädel zerschmettern könnte. Das geschieht aber nicht, weil ohne zusätzlichen Kraftaufwand das Pendel bei der Rückschwingung nicht höher kommen kann, als der Ausgangspunkt. „Physik funktioniert und ich lebe immer noch!“16 – So lautet das Resümee, das Walter Lewin von diesem Glaubensbekenntnis zu den physikalischen Gesetzesmäßigkeiten zieht. Die Physik deckt aber weitere Felder ab, wenn auch weniger spektakulär, nach denen man spontan aus dem Alltagsleben heraus sich Fragen stellen könnte. Walter Lewin schreibt: „Die Physik erklärt, wie die fragile Schönheit des Regenbogens entsteht, dazu die Existenz Schwarzer Löcher, die Gründe, warum Planeten sich so und nicht anders bewegen; sie hat erklärt, was vor sich geht, wenn ein Stern explodiert, warum eine wirbelnde Schlittschuhläuferin schneller wird, wenn sie die Arme einzieht, warum Astronauten im Weltall schwerelos sind, wie die Elemente im Universum entstanden sind, wann unser Universum anfing, wie eine Flöte Musik hervorzubringen, wie wir Elektrizität erzeugen, die sowohl unsere Körper als auch unsere Wirtschaft vorwärtsbringt, und wie der Urknall geklungen hat.“17 Und das sind nur einige Beispiele. Man ist alltäglich mit Physik konfrontiert, nicht allein durch die Schwerkraft. Je alltäglicher die Versuche sind, desto nachvollziehbarer; umso nachvollziehbarer, desto mehr können daraus wiederum Rückschlüsse auf die Praxis des Alltags gezogen werden.

Schwieriger verhält es sich bei der Chemie. Aus dem Chemieunterricht ist mir eindrücklich geblieben, dass anhand eines Steckbaukastens18 die Experimente, die wir durchführten, veranschaulicht worden sind. Die Moleküle, die am Experiment beteiligt waren, mussten wir anschaulich nachbauen. Das macht den ablaufenden chemischen Prozess nachvollziehbarer. Schwieriger ist es, sich selbstständig damit zu befassen. Natürlich steckt Chemie in den alltäglichen Dingen, wie etwa im mit Kochsalz versetzten Nudelwasser. Aus dem Alltag heraus aber wissenschaftliche Versuche durchzuführen, ist kaum möglich. Es mangelt entweder an entsprechendem Material, an Kenntnis oder gar an beidem. Man kann aber mit einigen Heimversuchen das eigene Verständnis von Grundlagen der Wirkung der chemischen Naturgesetze verbessern. Das kann kein Theoriestudium völlig ersetzen, wodurch die Hintergründe im Detail beleuchtet werden, aber das ist Wissen, welches Chemiker benötigen.

In einer Zeit, in welcher gegen die Wissenschaft Sturm gelaufen wird, etwa durch den Vorwurf des „Rassismus“19, sei noch einmal darauf hingewiesen: Wissenschaft hat keinen Klassencharakter. Lu Dingyi verdeutlichte im Jahre 1956 in einer Rede vor Intellektuellen: „Wie jedem bekannt ist, haben die Naturwissenschaften, einschließlich der Medizin, keinen Klassencharakter.“20 Anschließend führte er Negativbeispiele dafür an, wie diese Tatsache von einigen Genossen nicht anerkannt worden sind. So wurde den Naturwissenschaftlern auf Grundlage der Herkunft aus der jeweiligen Gesellschaftsordnung das entsprechende Adjektiv angehängt. Ein anderes Problem ist es, wenn Naturwissenschaftlern aufgrund ihrer wissenschaftlichen Verdienste ein fortschrittlicher Anstrich gegeben wird auf dem Gebiet der Gesellschaft. Da die Naturwissenschaften keinen Klassencharakter haben, da sie allgemeinmenschliche Erkenntnisse sind, können ausgesprochene Reaktionäre auf diesen Feldern für uns nützliche Forschung betreiben. Wernher von Braun als Entdecker der Raketentechnologie ist dabei zu erwähnen. Er war der Architekt der V-Raketen für das Naziregime, später machte ihn seine Forschung zu einem der Väter der Raumfahrt. Es handelte sich dabei um eine große Leistung auf dem Gebiet der Physik, ungeachtet der Nutzung durch die Hitlerfaschisten und später in Person für die USA. Auch die sowjetische Raumfahrt konnte zumindest auf Ergebnisse von Brauns Forschung zurückgreifen. Kurzum: Die Naturwissenschaft eignet sich systematisch Erkenntnisse der Naturgesetze an. Die Ethik von beteiligten Personen und Versuchen war und ist dabei stets zweitrangig. Ernst Haeckel sprach: „Es ist der Naturwissenschaft gleichgültig, ob solche, auf sinnlicher Erfahrung beruhende Erkenntnisse den Neigungen, Wünschen und Gefühlen der Menschen angenehm oder widerwärtig, willkommen oder abstoßend erscheinen.“21 Zuerst kommt die Erkenntnis, danach ihre Deutung. Dabei können auch verbreitete Anschauungen für nichtig erklärt werden, wenn diese den Tatsachen widersprechen.

So brachte die Evolutionstheorie Licht ins Dunkel der vorherigen Anschauungen, welche davon ausgingen, dass die Arten seit ihrer Schöpfung so bestanden hätten und keiner Veränderung unterliegen würden. Haeckel sagte: „Allein abgesehen von diesem und anderen Mängeln, hat Darwins Theorie schon jetzt das unsterbliche Verdienst, in die ganze Verwandtschaftslehre der Organismen Sinn und Verstand hineingebracht zu haben.“22 Anstatt sich in fachspezifische Biologie einzulesen, was für Laien besonders schwerfällt, wäre es wichtig, die Tragweite der Evolutionstheorie zu begreifen. Diese lässt sich anhand des dialektischen Materialismus nachvollziehen als biologische Grundtendenz der Anpassung an materielle Bedingungen und die Rückwirkung der Anpassung auf diese. Vor allem würde man bei der Aneignung zu spezifischer Kenntnisse in das Problem hineingeraten, das Haeckel schon 1866 kritisierte. Aus seiner Sicht gab es damals bereits zu wenige Zoologen und Botaniker mit einem Überblick durch die „völlige Dezentralisierung aller biologischen Wissenschaftsgebiete“, sodass der Blick für das Ganze verlorenging23. Dadurch geht der Sinn des Lernens verloren, der aber für Schüler sehr wichtig ist24. Den Sinn des Lernens versteht man nur durch die Verknüpfung des Spezifischen mit dem Allgemeinen. Ansonsten fehlt der Kontext des Gelernten.

Ernst Haeckel ist in Deutschland in Vergessenheit geraten als darwinistischer Biologe. Zu Unrecht! In Maos China wurde sein Hauptwerk „Die Welträtsel“ in größerer Auflage herausgegeben, als die deutsche Originalausgabe25. Klaus Mehnert war überrascht, dass Mao Tsetung im Gespräch mit Helmut Schmidt am 31. Oktober 1975 neben Marx, Engels und Hegel auch noch Haeckel als Deutschen nannte, der sein Denken zeitlebens prägte. Haeckel war bereits damals jemand, den „heute bei uns kaum noch jemand kennt“26. Haeckel verband Philosophie und Naturwissenschaft in seinen Ausführungen. Alle Arbeit wahrer Wissenschaft geht auf Erkenntnis der Wahrheit.“27, schrieb einst Ernst Haeckel. Aus diesem Gedanken heraus versuchte Haeckel eine Philosophie zu prägen. „Eine solche wahre Philosophie kann nur auf naturwissenschaftlicher Grundlage fest ruhen, auf kritischer Zusammenfassung aller allgemeinen Ergebnisse der Erfahrungswissenschaften.“28, schrieb er. Diesen Ansatz verwirklicht der dialektische Materialismus.

Obwohl die Naturwissenschaften lediglich Fakten über das Universum feststellen und untersuchen, gab und gibt es ihnen zuwiderlaufende Strömungen. Über Jahrhunderte hinweg wurden wissenschaftliche Erkenntnisse von den Kirchen bekämpft. Weniger aus dem Grunde, dass die Erkenntnisse selbst so umstürzlerisch wären, als viel mehr, dass sie den dogmatischen Annahmen der Kirchenbürokratie widersprachen. Niemandem dürfte das Beispiel Galileo Galileis unbekannt sein, der formell der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, abschwören musste. „Und sie dreht sich doch!“, soll er trotzdem gesagt haben. Mit der Verbreitung der Evolutionstheorie Ende des 19. Jahrhunderts gab es ähnliche Forderungen, diese Erkenntnis mundtot zu machen. Haeckel sagte dazu: „Wieder sind es dieselben Drohungen und Befürchtungen wie zu Zeiten des Kopernikus und Galilei, welche dem schonungslosen Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis entgegengerufen werden. Mit den Glaubenssätzen, welche durch letztere vernichtet werden, soll nicht allein die Religion, sondern auch die Sittlichkeit zugrunde gehen. Indem die Wissenschaft die erlösungsbedürftige Menschheit von den tyrannischen Fesseln des Aberglaubens und der Autoritätsherrschaft befreit, soll sie der allgemeinen Anarchie und dem Ruin aller bürgerlichen und gesellschaftlichen Ordnung in die Hände arbeiten. Wie aber damals, im sechzehnten Jahrhundert, die neue Lehre von der Planetenbewegung um die Sonne der mächtige Hebel eines ganz ungeheuren Fortschritts in der wahren Naturerkenntnis und dadurch zugleich in der gesamten Zivilisation wurde, so wird auch Darwins Lehre von uns als der Morgenstern einer neuen Periode in der menschlichen Kulturgeschichte begrüßt werden müssen, einer Periode, welche die Jetztzeit weit überflügelt, als diese die dunkelste Zeit des Mittelalters hinter sich gelassen hat.“29 Jahre später sah Haeckel die Wissenschaft dadurch in Gefahr, dass Jesuiten Teile der aufgreifen, um den Hauptteil dafür umso heftiger abzulehnen30. Er befürchtete also eine Unterwanderung der wissenschaftlichen Forschung durch idealistische Anschauungen. Die erwähnte Sorge davor, dass wissenschaftliche Erkenntnisse Umstürze verursachen könnten, wurde Jahrzehnte später in Huxleys „Schöne neue Welt“ verarbeitet: „Jede rein wissenschaftliche Entdeckung kann möglicherweise den Umsturz bewirken.“31 So bedeutsam die Naturwissenschaften auch sind, eine solche Auswirkung können sie nicht haben. Sie haben zwar einen Einfluss auf die materiellen Verhältnisse auf dem Gebiet der Produktivkraftentwicklung, aber bekanntlicherweise nehmen die Produktionsmittel den Klassencharakter der besitzenden Klasse an. Die Bourgeoisie würde niemals freiwillig die Arbeitszeit reduzieren, auch wenn es technisch möglich wäre, da sie so auf einen Teil ihres Mehrwerts verzichten würden. Das beißt sich mit dem Streben nach Maximalprofiten. In Huxleys Roman heißt es, man habe die Arbeitszeit mal reduziert, aber das führte nur dazu, dass die Menschen mehr Zeit zum Nachdenken über ihr Dasein hatten und es deshalb zu Unruhen kam32. Auch wenn dieser Roman einen fiktiven „Kapitalismus im absoluten Endstadium“ abzeichnet, so steckt in dieser überspitzten Weise dennoch die Wahrheit. Sie wurde lediglich stark vergrößert, ins Extrem getrieben, um den Endpunkt der Tendenz aufzuzeigen.

Laut einer Apokryphe soll Jesus zu Pilatus gesagt haben: „Du siehst ja, wie die, welche die Wahrheit sagen, von denen gerichtet werden, die auf Erden die Macht haben.“33 Solche Zustände herrschten vor und wirken noch nach mit Vorbehalten gegenüber der Evolutionstheorie durch religiöse Sekten und Esoteriker. Das Problem der Sekten überwindet man durch Säkularisierung und der historischen Einordnung der religiösen Botschaft34. Am gefährlichsten sind in der heutigen Zeit Angriffe auf die Wissenschaft von Postmodernen. Zu dieser Strömung, welche sich einen akademischen Anstrich gibt, passt diese Aussage aus Huxleys „Schöne neue Welt“ zutreffend: „Sogar die Wissenschaft muß manchmal als möglicher Feind behandelt werden. Ja, auch die Wissenschaft!“35 Letztendlich geht es dieser Strömung nicht anders als Sektenanhängern und Esoterikern darum, die Wissenschaft auf bestimmten Bereichen durch falsche Dogmen, zu ersetzen. Dem müssen wir etwas entgegensetzen, um nicht in den Obskurantismus zurückzufallen.

Nun zur persönlichen Intention. Auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet, besonders in Fragen der Geschichte, vermag ich etwas zu bieten. Aber es ist so, wie eine Qumran-Schrift besagt: „Alle Menschen gehen sowohl den Weg der Weisheit als auch der Dummheit.“36 Ich kann nicht mit einem grundlegenden Verständnis der Naturwissenschaften aufwarten. Das setzt meiner Welterkenntnis und meinem Weltverständnis gewisse Grenzen. Johannes der Täufer sprach mit Bezug auf Jesus: „Nach mir kommt der, der stärker ist als ich.“37 Aus dem Kontext gerissen kann man diesen Spruch so auffassen: Eigene Unkenntnisse muss das Kollektiv ausgleichen; jemand im Kollektiv, der auf diesem Gebiet besser bescheid weiß, als man selbst. Es gibt stets Dinge, von denen die Einzelperson nichts weiß oder von der sie nur bedingten Sachverstand besitzt. Das ist es, was subjektivistische Fehler gebiert. Das bedeutet aber nicht, dass man gar nicht erst versuchen sollte, sich fehlende Kenntnisse anzueignen. Ganz im Gegenteil! Aus dem vorgenannten Grund ist es so wichtig, dass man kollektiv nach der Wahrheit sucht. Das vermag zwar nicht jegliche Fehler zu vermeiden, aber zumindest sie signifikant zu reduzieren. Auch diese Erkenntnis ist Wissenschaft, wenn auch nicht Naturwissenschaft, in welcher ich Nachholbedarf habe. Aus diesem Grund ist dieser Aufsatz entstanden: Um andere Genossen zu ermutigen das zu erlernen, was ich ihnen nicht beibringen kann.

Das Einfachste, was man tun kann, um ein naturwissenschaftliches Grundverständnis zu erhalten, ist, wenn man in Berührung mit der Natur kommt und sich diese genauer anschaut, sie fühlt und unter die Lupe nimmt. Der Zen-Meister Huangpo sagte einmal: „Ein Mann, der Wasser trinkt, weiß sehr genau, ob es kalt oder warm ist.“38 Durch Experimente kommt man zu einem Wirkungsverständnis der Naturgesetzesmäßigkeiten. Reines Buchwissen ohne die Grundlagen zu kennen, ist nichtig. Ohne auf praktische Erkenntnisse zu fußen, die somit belegbar oder falsifizierbar sind, würde man in eine Sackgasse geraten, wie die theoretische Physik mit der Stringtheorie, welcher bescheinigt wird, sie sei „nicht einmal falsch“39. Dabei handelt es sich aber bereits um einen hohen Grad an theoretischer Abstraktion und an Details. Es steht deshalb an der Tagesordnung für einen jeden von uns, sich mit den naturwissenschaftlichen Grundlagen vertraut zu machen.

1Rede in der Gründungsversammlung der Gesellschaft für naturwissenschaftliche Forschung im Shaanxi-Gansu-Ningxia-Grenzgebiet“ (5. Februar 1940) In: „Mao´s Road to Power“, Vol. VII, M. E. Sharpe, Armonk (New York)/London 2005, S. 409, Englisch.

2Vgl. 1. Mose 1, 28.

3Der materialistische Kern der Naturwissenschaft in Deutschland“ (1963) In: Gerhard Harig „Schriften zur Geschichte der Naturwissenschaften“, Akademie-Verlag, Berlin 1983, S. 244.

4Friedrich Engels „Dialektik der Natur“ In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 20, Dietz Verlag, Berlin 1975, S. 349.

5Vgl. „Lenin und die moderne Physik“ (1934) In: Gerhard Harig „Ausgewählte philosophische Schriften“, Karl-Marx-Universität, Leipzig 1973, S. 17.

6Ebenda, S. 18.

7Vgl. Ebenda, S. 25.

8Siehe: Ebenda, S. 23.

9Vgl. Ebenda, S. 26.

10Ebenda, S. 35.

11Walter Lewin „Es funktioniert! – Vom Vergnügen, endlich Physik zu verstehen“, btb Verlag, München 2013, S. 45.

13Walter Lewin „Es funktioniert! – Vom Vergnügen, endlich Physik zu verstehen“, btb Verlag, München 2013, S. 44.

14Vgl. Ebenda, S. 20.

15Chang Tsai „Rechtes Auflichten/Cheng-meng“, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1996, S. 55, Kapitel VIII, 47.

17Walter Lewin „Es funktioniert! – Vom Vergnügen, endlich Physik zu verstehen“, btb Verlag, München 2013, S. 43.

20Lu Ting-yi „Let a hundred Flowers blossom, a hundred Schools of Thought contend!“ (26. Mai 1956), Foreign Languages Press, Peking 1964, S. 15, Englisch.

21Über die Entstehung des Menschengeschlechts“ (1865) In: Ernst Haeckel „Der Kampf um den Entwicklungsgedanken“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1967, S. 74.

22Erstes Bekenntnis zu Darwin“ (1862) In: Ebenda, S. 14.

23Vgl. „Generelle Morphologie der Organismen“ (14. September 1866) In: Ebenda, S. 88.

24Siehe dazu: Sonja Müller „Theodor Neubauer“, Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1969, S. 54.

25Siehe: Klaus Mehnert „Kampf um Maos Erbe“, Ullstein Verlag, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1978, S. 158. 1974 war eine Auflagenhöhe von 400.000 erreicht worden.

26Ebenda, S. 151.

27Ernst Haeckel „Die Welträtsel“, Nikol Verlag, Hamburg 2009, S. 375.

28Ebenda, S. 503/504.

29Über die Entstehung des Menschengeschlechts“ (1865) In: Ernst Haeckel „Der Kampf um den Entwicklungsgedanken“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1967, S. 55.

30Vgl. „Der Kampf um den Entwicklungsgedanken“ (1905) In: Ebenda, S. 120.

31Aldous Huxley „Schöne neue Welt“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 222.

32Vgl. Ebenda, S. 221.

33Nikodemusevangelium In: (Hrsg.) Wilhelm Michaelis „Die apokryphen Schriften zum Neuen Testament“, Anaconda Verlag, Köln 2013, S. 160.

34https://web.archive.org/web/20100919010443/http://diepresse.com/home/panorama/religion/521871/index.do?_vl_backlink=/home/panorama/religion/index.do Der Islamforscher Tilman Nagel brachte es so auf den Punkt: Eine säkulare Gesellschaft hat als wesentliches Element die Historisierung der Religionen.“ Das bedeutet letztendlich, die Religion in das Gebiet der Kulturgeschichte zu verweisen und sie nicht als Erkenntnismethode zu benutzen.

35Aldous Huxley „Schöne neue Welt“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 222.

36Grundgesetz einer Sekten-Gemeinschaft“ In: Michael Wise/Martin Abegg Jr./Edward Cook „Die Schriftrollen von Qumran“, Pattloch Verlag, Augsburg 1997, S. 147.

37Markus 1, 7.

38Huang-po „Der Geist des Zen“, O. W. Barth, München 2011, S. 138.

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