Ein unerfülltes Vermächtnis – Zum 75. Jahrestag der hessischen Verfassung

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Am 1. Dezember 1946 wurde die Verfassung des Landes Hessen angenommen. Vielen ist unbewusst, dass sie ein Beleg gegen die Behauptung ist, dass in der Sowjetischen Besatzungszone „der Sozialismus aufgezwungen“ worden sei. Sie ist der Beleg für das Gegenteil, nämlich, dass jeder Schritt Richtung Sozialismus in Westdeutschland von Anfang an unterbunden wurde von den Amerikanern. Dafür sei nun ein Blick in die Geschichte geworfen.

Wie sahen die Umstände der Ausarbeitung der hessischen Verfassung aus? Der SPD-Politiker Ludwig Bergsträsser sprach während den Beratungen zur Verfassungsausarbeitung: „Unsere Verfassung wird eine sozialistische sein, oder sie wird nicht sein.“1 Grund dafür war, dass die SPD zusammen mit der KPD (West) mehrheitsfähig war2. Sie konnte also die bürgerlichen Parteien CDU und LDP (die spätere FDP) überstimmen lassen. Aus diesem Grund war es aber auch unnötig, dass die SPD in der Sozialisierungsfrage gegenüber der CDU nachgab, indem die chemische Industrie davon ausgenommen werden soll, wenn dafür die Sozialisierung direkt umgesetzt wird, statt „in einer nebelhaften Zukunft“3. Die KPD (West) forderte: „Die Verfassung muss das Privateigentum garantieren.“4 Artikel 45 der hessischen Verfassung schreibt dies fest. Diese Forderung der KPD (West) entsprach den Bedingungen der Zeit. In der volksdemokratischen Phase ist es nicht möglich, das Privateigentum sofort vollständig zu liquidieren. Auch in der Sowjetischen Besatzungszone wurde damals lediglich das Großkapital enteignet, während das kleine und sogar das mittlere Privateigentum zwar gesetzlich reguliert, aber unangetastet blieb. Unter anderem deshalb ist es wenig verwunderlich, dass diese Verfassung in der DDR-Geschichtsschreibung Anerkennung fand.

In der „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ steht über die hessische Verfassung geschrieben: „Einen Höhepunkt des Kampfes der westdeutschen Werktätigen gegen das Monopolkapital bildeten die Aktionen in Hessen. In Hessen wurde am 1. Dezember 1946 ein Verfassungsentwurf zur Abstimmung gestellt. Obwohl sozialdemokratische Führer bei der Ausarbeitung der Verfassung der CDU eine Reihe überflüssiger Zugeständnisse machten, trug der Verfassungsentwurf dank der Initiative kommunistischer und klassenbewußter sozialdemokratischer Abgeordneter einen fortschrittlichen Charakter. In diesem Entwurf waren Artikel enthalten über die Bodenreform, über gleichen Lohn für gleiche Arbeit, über das Mitbestimmungsrecht der Arbeiter. Der wichtigste war der Artikel 41.“5 Wieso ist dieser Artikel so bedeutsam? Weil es sich dabei um den sogenannten „Sozialisierungsartikel“ handelt.

Artikel 41 besagt:

Mit Inkrafttreten dieser Verfassung werden


1. in Gemeineigentum überführt: der Bergbau (Kohlen, Kali, Erze), die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft und das an Schienen oder Oberleitungen gebundene Verkehrswesen;

2. vom Staat beaufsichtigt oder verwaltet: die Großbanken und Versicherungsunternehmen und diejenigen in Ziffer 1 genannten Betriebe, deren Sitz nicht in Hessen liegt.


Das Nähere bestimmt ein Gesetz.


Wer Eigentümer eines danach in Gemeineigentum überführten Betriebes oder mit seiner Leitung betraut ist, hat ihn als Treuhänder des Landes bis zum Erlaß von Ausführungsgesetzen weiterzuführen.“
6 An eben diesen Ausführungsgesetzen sollte die Umsetzung später scheitern. Dazu an anderer Stelle mehr.

Die „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ merkt an, dass die amerikanischen Besatzungsbehörden eine Reihe von Betrieben, alle Banken und Versicherungsgesellschaften von Artikel 41 auszunehmen seien und dieser Artikel keine Übergabe an den Staat bedeuten dürfe, sondern lediglich eine „staatliche Aufsicht“ über die Betriebe7. Die amerikanischen Besatzer waren gegen die Sozialisierungsmaßnahmen, wie Dokumente belegen8. Das ist wenig verwunderlich, denn über Artikel 41 wurde separat abgestimmt, weil er den Klasseninteressen des amerikanischen Kapitals nicht entsprach9. Die amerikanischen Besatzer glaubten, dass die hessische Bevölkerung der bürgerlichen Ideologie vollsten ergeben sei. Aus diesem Grund wurde für Artikel 41 gesondert abgestimmt. Tatsächlich stand jedoch eine Mehrheit hinter den Maßnahmen einer antifaschistisch-demokratischen Umwälzung10. Das belegten 76,75% der Stimmen für die Verfassung und 71,92% der Stimmen explizit für Artikel 4111.

Abgesehen von Artikel 41 birgt die hessische Verfassung in ihrer Ursprungsfassung noch weitere fortschrittliche Artikel.

Artikel 38 besagt:

Die Wirtschaft des Landes hat die Aufgabe, dem Wohle des ganzen Volkes und der Befriedigung seines Bedarfs zu dienen. Zu diesem Zweck hat das Gesetz die Maßnahmen anzuordnen, die erforderlich sind, um die Erzeugung, Herstellung und Verteilung sinnvoll zu lenken und jedermann einen gerechten Anteil an dem wirtschaftlichen Ergebnis aller Arbeit zu sichern und ihn vor Ausbeutung zu schützen.

Im Rahmen der hierdurch gezogenen Grenzen ist die wirtschaftliche Betätigung frei.

Die Gewerkschaften und die Vertreter der Unternehmen haben gleiches Mitbestimmungsrecht in den vom Staat mit der Durchführung seiner Lenkungsmaßnahmen beauftragten Organen.“

Der letzte Abschnitt bedeutet natürlich ein versuchter Klassenkompromiss zwischen Arbeit und Kapital. Das konnte, trotz dem Inhalt des restlichen Artikels, nur bürgerlichen Klassencharakter dessen bedeuten.

Artikel 39 besagt:

Jeder Mißbrauch der wirtschaftlichen Freiheit – insbesondere zu monopolistischer Machtzusammenballung und zu politischer Macht – ist untersagt.


Vermögen, das die Gefahr solchen Mißbrauchs wirtschaftlicher Freiheit in sich birgt, ist auf Grund gesetzlicher Bestimmungen in Gemeineigentum zu überführen. Soweit die Überführung in Gemeineigentum wirtschaftlich nicht zweckmäßig ist, muß dieses Vermögen auf Grund gesetzlicher Bestimmungen unter Staatsaufsicht gestellt oder durch vom Staate bestellte Organe verwaltet werden.

Ob diese Voraussetzungen vorliegen, entscheidet das Gesetz.

Die Entschädigung für das in Gemeineigentum überführte Vermögen wird durch das Gesetz nach sozialen Gesichtspunkten geregelt. Bei festgestelltem Mißbrauch wirtschaftlicher Macht ist in der Regel die Entschädigung zu versagen.“

In Ostdeutschland wurden damals ähnlich lautende Gesetze beschlossen. Das Problem bei diesem Artikel ist, dass „das Gesetz entscheidet“. Gesetzgeber war und ist die bürgerliche Landesregierung. Die Umsetzung dieses Artikels blieb und bleibt also eine rein theoretische Möglichkeit. Der letzte Abschnitt ist seit der Gültigkeit des Grundgesetzes für Hessen ohnehin rechtlich nicht mehr bindend.

Artikel 40 besagt:

Gemeineigentum ist Eigentum des Volkes. Die Verfügung über dieses Eigentum und seine Verwaltung soll nach näherer gesetzlicher Bestimmung solchen Rechtsträgern zustehen, welche die Gewähr dafür bieten, daß das Eigentum ausschließlich dem Wohle des ganzen Volkes dient und Machtzusammenballungen vermieden werden.“

Damit wird das Volkseigentum begründet. Die Form der Verwaltung bleibt hier aber offen.

Artikel 42 besagt:

Nach Maßgabe besonderer Gesetze ist der Großgrundbesitz, der nach geschichtlicher Erfahrung die Gefahr politischen Mißbrauchs oder der Begünstigung militaristischer Bestrebungen in sich birgt, im Rahmen einer Bodenreform einzuziehen.

Aufgabe der Bodenreform ist vor allem, den land- und forstwirtschaftlichen Boden zu erhalten und zu vermehren und seine Leistung zu steigern, Bauern anzusiedeln und gesunde Wohnstätten, Kleinsiedlerstellen und Kleingärten zu schaffen.

Streubesitz ist durch Umlegung leistungsfähiger zu machen.

Grundbesitz, den sein Eigentümer einer ordnungsgemäßen Bewirtschaftung entzieht, kann nach näherer gesetzlicher Bestimmung eingezogen werden.


Für die Entschädigung des seitherigen Eigentümers gilt der Artikel 39 Absatz 4 entsprechend.“

Dies ist offensichtlich an die im September 1945 durchgeführte Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone angelehnt. Die Umsetzung fand nicht statt. Die Umlegung, welche erst in den frühen 60er Jahren stattfand, führte noch mehr zur Konzentration des Grundeigentums in den Händen von Großbauern.

Artikel 43 besagt:

Selbständige Klein- und Mittelbetriebe in Landwirtschaft, Gewerbe, Handwerk und Handel sind durch Gesetzgebung und Verwaltung zu fördern und besonders vor Überlastung und Aufsaugung zu schützen.


Zu diesem Zweck ist die genossenschaftliche Selbsthilfe auszubauen.“

Und Artikel 44 besagt:

Das Genossenschaftswesen ist zu fördern.“

Einerseits sollen Klein- und Mittelbetriebe unterstützt werden, andererseits Genossenschaften. Den Genossenschaften wird nicht eindeutig der Vorrang über das kleine Privateigentum gegeben. Es ist aber bemerkenswert, dass neben der Verstaatlichung der Großbetriebe auch die Entwicklung des Genossenschaftswesens Augenmerk geschenkt worden ist.

Umgesetzt wären diese fortschrittlichen Artikel wirtschaftliche Grundbausteine des Sozialismus gewesen. Es kam aber nicht dazu.

Es gibt auch Artikel, die fortschrittlich aussehen, aber es in der Umsetzung für sich genommen nicht sind. Artikel 33 zum Beispiel enthält zwar eine fortschrittliche Grundidee, aber sie kommt nicht zur Geltung unter den kapitalistischen Verhältnissen. Der besagte Artikel im Wortlaut: Das Arbeitsentgelt muß der Leistung entsprechen und zum Lebensbedarf für den Arbeitenden und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen ausreichen. Die Frau und der Jugendliche haben für gleiche Tätigkeit und gleiche Leistung Anspruch auf gleichen Lohn. Das Arbeitsentgelt für die in die Arbeitszeit fallenden Feiertage wird weiter gezahlt.“ Dahinter steckt die Forderung nach einem „gerechten Lohn“. Wären die Artikel umgesetzt worden, welche die Eigentumsverhältnisse umgestalten, dann wäre die Umsetzung dieses Artikels auch möglich gewesen. Aber unter kapitalistischen Verhältnissen verhält es sich mit diesem, wie Karl Marx in „Lohn, Preis und Profit“ sagte: „Nach gleicher oder gar gerechter Entlohnung auf Basis des Lohnsystems rufen, ist dasselbe, wie auf Basis des Systems der Sklaverei nach Freiheit zu rufen.“12 Prinzipiell entsprechen die Forderungen dieses Artikels den Klasseninteressen der Arbeiter. Sie sind aber auf Grundlage des kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln nicht umsetzbar. Damit wären wir wieder bei der Frage der Umsetzung.

Die Umsetzung von Artikel 41 fand am 25. Oktober 1950 ihr endgültiges Ende. Der hessische Landtag lehnte damals in der dritten Lesung ein Sozialisierungsgesetz auf Grundlage von Artikel 41 ab.

Erich Großkopf hielt das Plädoyer der CDU im Landestag. Er trat nicht direkt gegen Artikel 41 auf, aber versuchte dessen Umsetzung unter vorgeschobenen Gründen zu verschleppen. So sprach er davon, dass, als der Artikel angenommen wurde im Jahre 1946, nur eine Landesgesetzgebung möglich war und man die Umsetzung „zurückstellen“ sollte, um eine gesamtdeutsche Lösung zu finden13. Großkopf meinte damit das damalige Bundesgebiet und er warf der FDP vor, dass sie jede Gelegenheit nutzen würde, um „ihre Antipathie gegen Artikel 41 zum Ausdruck zu bringen“14. Das hing damit zusammen, dass die CDU während der Volksabstimmung über die Verfassung sich zustimmend äußerte. Aus taktischen Gründen trat Großkopf nicht offen gegen Artikel 41 auf, sondern „nur“ gegen dessen Verwirklichung.

Die Zustimmung durch die FDP wurde aufgrund von „rechtlichen Bedenken“ verweigert. Der FDP-Abgeordnete Göbel führte an, die Sozialisierung sei mit Artikel 12515 des Grundgesetzes unvereinbar (was nicht erkennbar ist), sowie gegen Artikel 1416 und 1517 des Grundgesetzes18. Diese Argumentationsweise ist nicht schlüssig, da diese Artikel eine Enteignung mit Entschädigungszahlung ermöglichen. An Großkopfs Vorwurf, dass die FDP eine generelle Antipathie gegen Artikel 41 besäße und dafür „nach jeden Strohhalm“ greifen würde, ist etwas dran. Die FDP führte nicht einmal vorgeschobene Gründe ins Feld, wie die CDU, sondern ging mit sachlich falschen Behauptungen in die Debatte.

Franz Gondolf sprach für die KPD (West) in der Debatte. In seiner Stellungnahme wies er daraufhin, dass am 1. Dezember 1946 die hessische Verfassung angenommen worden ist und Artikel 41 per separater Abstimmung angenommen wurde. Seitdem waren bereits vier Jahre vergangen, wie er bemerkte, und für das vorliegende Gesetz habe im Januar 1949 bereits die erste Lesung stattgefunden. Er warf FDP und CDU vor, jetzt, in der dritten Lesung, die Abstimmung noch weiter verschleppen zu wollen. „Wir halten es für notwendig, daß der Gesetzentwurf noch von diesem Landtage verabschiedet wird. Unsere Fraktion wird deshalb dem vorliegenden Gesetzentwurf, mag er auch noch einige Mängel und Schwächen aufweisen, im Interesse der gesamten werktätigen Bevölkerung zustimmen.“19, sprach Gondolf am Schluss seiner kurzen Rede. Die KPD (West) stellte sich also ohne lange Ausführungen hinter den Gesetzesentwurf.

Der SPD-Abgeordnete Fischer kritisierte die FDP dafür, über vier Jahre hinweg nur im Sinn gehabt zu haben, den Gesetzesentwurf zu Fall zu bringen. Fischer kritisierte auch Großkopfs Argumentationsweise, dass das Land Hessen zu einem Teil der Bundesrepublik geworden sei und erinnerte an die Unterstützung der CDU für Artikel 41 im Jahre 1946. Großkopf wurde von Fischer dafür attackiert, dass er gegen die Sozialisierung in den einzelnen Bundesländern und für die Beibehaltung des Privateigentums eintrat, weil die Sozialisierung in den anderen Bundesländern für sich angeblich nicht im Sinne des hessischen Volkes sei. Fischer meinte, die Sozialisierung würde egal in welchem Bundesland dem ganzen deutschen Volk, damit auch dem hessischen, nützen. Fischer warf Großkopf vor, dass selbst, wenn in Bonn die Sozialisierungsfrage gestellt werden würde, er dagegen sein würde, mit der Begründung, dass man warten solle, bis ganz Deutschland wiedervereinigt sei20. Großkopf sagte dies nicht direkt, aber die Konsequenzen, die Fischer aus dessen Argumentationsweise zog, sind schlüssig. Fischer durchschaute also die versuchte Verschleppung einer Entscheidung durch die CDU. Dennoch hielt das Fischer nicht davon ab, sich von Großkopfs Zwischenrufen „Und die sozialistische Sowjetunion?“ provozieren zu lassen und entsprechend antikommunistische Äußerungen zu tätigen. Die Sowjetunion sei durch eine „reaktionäre Politik ins Unglück geführt“ worden und er unterstellte kommunistischen Zeitungen in Deutschland, dass sie Persilscheine ausstellen würden21. Von diesem Zeitpunkt an kippte die Sozialisierungsdebatte um in eine Tribüne für antisozialistische Stellungnahmen.

Der Folgeredner, der FDP-Abgeordnete Ilau, fing damit an, Artikel 41 mit Karl Marx in Verbindung zu bringen. Die Sozialisierung bezeichnete er als „großen Kladderadatsch“, den Marx und später Bebel bereits gewollt hätten22. Dennoch sprach sich Ilau für eine „energische Bekämpfung des Monopolismus in allen Erscheinungsformen“ aus, nämlich „marktbeherrschende Kartelle, überdimensionierte Konzerne oder monopolistische Gewerkschaftspolitik“23. Kurzum: Er sprach sich in Worten für einen vormonopolistischen Kapitalismus aus, aber durch den Schwenk gegen die Gewerkschaftspolitik zeigte er, dass er sich praktisch nur gegen die Arbeiterbewegung wandte. Antimonopolismus ist formell in der hessischen Verfassung festgeschrieben, aber aus der Umsetzung wurde genauso wenig, wie aus den Worten von Ilau.

Nach Ilau ergriff noch einmal der CDUler Großkopf das Wort. Er sprach sich gegen den Sozialismus aus und warf der Sowjetunion vor, dass sie Kriegsdrohungen betreibe und „die übrige Welt terrorisieren“ würde. In Worten wandte er sich anschließend gegen Ilaus Ausführungen24.

Provoziert von FDP und CDU sah sich die SPD dazu veranlasst, ebenfalls antisozialistische Stellungnahmen abzugeben. In Zwischenrufen bezeichnete der SPD-Abgeordnete Fischer es als „Diffamierung der sozialistischen Ideologie“, als Großkopf sagte, die Sowjetunion beruhe auf Grundlage des Marxismus und bestritt, dass sie darauf beruhe25. Der SPD-Abgeordnete Gumbel gab nach Großkopfs Ausführungen eine Stellungnahme ab. Er bestritt, dass die Sowjetunion auf den Marxismus zurückgeht und sagte: „Was in Rußland aufgebaut wird, ist nicht Sozialismus, sondern Bolschewismus.“26 Die SPD-Abgeordnete Selbert schlug in die selbe Kerbe. Sie warf Ilau vor, dass er von Karl Marx und seinen Ideen nichts verstünde. Anschließend sprach sie folgendermaßen über die Sowjetunion: „Das, was dort geschieht, ist keine Sozialisierung, das ist Verstaatlichung in einem Machtstaat schlimmster Art. Das ist kein Sozialismus. Diese Art Verstaatlichung hat mit Sozialismus nichts zu tun. Auch sie ist eine Machtzusammenballung, die wir nicht wollen.“27 Kurzum: Verstaatlichungen im Staatsmonopolkapitalismus sind „Sozialisierung“; Verstaatlichungen im Sozialismus sind „Machtzusammenballung“. Die Anschauungen der SPD waren spiegelverkehrt zur Wirklichkeit. Die antisozialistischen Anschauungen von CDU, FDP und SPD unterschieden sich zwar in ihren Formen, aber der Wesensinhalt war derselbe.

Am Ende der Debatte wurde das Sozialisierungsgesetz mit 41 Stimmen der SPD und der KPD gegen 41 Stimmen der CDU und FDP stimmengleich abgelehnt28. Eugen Kogon drückte es folgendermaßen aus: „Mit 41 zu 41 kam der Artikel 41 zu Fall.“29 Seit dieser Zeit ist Artikel 41 zu einem politischen Fossil in Westdeutschland geworden. Der Artikel steht zwar noch immer in der hessischen Verfassung, aber seitdem das Sozialisierungsgesetz gescheitert ist, gab es keinen Versuch zur Verwirklichung mehr. Auch wenn er nicht verwirklicht wurde, so ist Artikel 41 ein historischer Beleg für die Sozialisierungsbestrebungen im Westen.

Diese Bestrebungen kamen von unten, allem voran von den Gewerkschaften. Eine bedeutsame Rolle spielten die Gewerkschaften bei der Mobilisierung der Wählerschaft für die Verfassung. Während die katholischen Bischöfe von Fulda, Limburg und Mainz sich gegen die Verfassung aussprachen und politische Einflussnahme auf die katholischen Gläubigen betrieben30, stellte sich der Freie Gewerkschaftsbund Hessens hinter die Verfassung. Am 15. November 1946 veröffentlichte die „Stimme der Arbeit“ einen Aufruf des Gewerkschaftsbundes zur Annahme der Verfassung. Über Artikel 41, über welchen gesondert abgestimmt wurde, steht geschrieben: „Wir glauben, daß es aus den Reihen der Gewerkschaften nur ein dreihunderttausendfaches Ja geben wird. Dieser Artikel ist eigentlich das Rückgrat der Verfassung. Wir können uns überhaupt nicht vorstellen, daß diese Forderungen jemand verneinen könnte.“31 Es wurde darauf verwiesen, dass SPD, KPD und CDU der Verfassung zustimmten und lediglich die LDP (die spätere FDP) dagegen gewesen ist. Im Artikel steht aber auch folgende Aussage: „Der Gewerkschafter kann diese Verfassung nur mit einem Ja beantworten, wenn er es ernst meint mit der Wirtschaftsdemokratie.“32 Die „Wirtschaftsdemokratie“ war eine opportunistische Theorie der Sozialdemokraten aus den 20er Jahren. Die Gewerkschaften waren also klar SPD-dominiert. Es ist aber anzumerken, dass der Freie Gewerkschaftsbund Hessen am 12. November 1948 den Generalstreik in den Westzonen unterstützte33. Man kann also nicht sagen, dass die Gewerkschaften zum damaligen Zeitpunkt ausschließlich die Linie der „Sozialpartnerschaft“ verfolgt hätten. Diese Aussage von Andreas Hedwig zur hessischen Verfassung stimmt durchaus: „Die Rolle der KPD zusammen mit der SPD im Entstehungsprozess ist nicht zu unterschätzen.“34 Die mobilisierende Rolle der Gewerkschaften für die Bevölkerungsbasis ist aber ebensowenig zu unterschätzen.

Es steht nur in Frage, wie weit die Gewerkschaften damals bereit waren, für ihre Interessen zu kämpfen. Eberhard Schmidt schrieb über die Sozialisierungsfrage im Westdeutschland der 40er Jahre: „Was die Frage der Sozialisierung anbetraf, so wurde von den führenden Gewerkschaftsfunktionären in den Westzonen von Anfang an nicht eine Vollsozialisierung angestrebt, sondern lediglich eine Sozialisierung der Grundstoffindustrien, im wesentlichen: Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie, Großchemie und Großbanken.“35 Staatliche Wirtschaftsplanung und Demokratisierung der Betriebe seien aber ebenfalls unterstützt worden. Es mag sein, dass die Gewerkschaften selbst bei Umsetzung von Artikel 41 sich nicht für die vollständige Verwirklichung des Sozialismus eingesetzt hätten, trotz ihrer Möglichkeiten der Einflussnahme. Das belegt die Wiederbelebung der opportunistischen Theorie der „Wirtschaftsdemokratie“. Der Grund dafür liegt darin, dass es in Hessen damals keine Avantgardepartei gab, welche solche spontanen Maßnahmen, die dem Wesen nach volksdemokratisch waren, weitergeführt hätte bis zur Erreichung des Sozialismus. Daran war die Spaltung der westdeutschen Arbeiterbewegung durch die rechten SPD-Führer schuld, wie auch die Mängel der KPD (West) in der ideologischen Ausrichtung und der Organisation. Die SPD machte der CDU Zugeständnisse und diese Partei revanchierte sich dadurch, dass sie das Sozialisierungsgesetz verschleppte und letztendlich ablehnte. Die SPD stimmte ein in den Antikommunismus von FDP und CDU, aber diese gewährten ihr dafür keine Unterstützungsstimmen. Dieses Beispiel zeigt: Bei Klasseninteressen kann es keine Zugeständnisse geben, ohne sich selbst aufzugeben.

Die Geschichte hessischen Landesverfassung hält zwei wichtige Lehren parat:

Erstens, die Sozialisierung der Großindustrie war keine Angelegenheit, die bloß Ostdeutschland betraf. Wie man ersehen kann, ist der Mythos, die Sowjetunion habe „Ostdeutschland den Sozialismus aufgezwungen“ so nicht stimmig. Man kann am Schicksal von Artikel 41 ersehen: Die USA haben in den Westzonen den Kapitalismus restauriert und sozialistische Bestrebungen abgewürgt. Wie aufgezeigt, spielten dabei natürlich auch demagogische Manöver der bürgerlichen Parteien, allen voran die CDU, eine Rolle. So wurde die Umsetzung verschleppt, bis sie sich „durch die veränderten politischen Verhältnisse erledigt“36 hatte, wie es der Jurist Georg D. Falk ausdrückt. Die hessische Verfassung bleibt dadurch bis heute zu einem großen Teil bloß bedrucktes Papier.

Zweitens, kein Gesetzesbeschluss setzt sich von selbst um. De jure sollte die Grundstoffindustrie in Hessen verstaatlicht sein, de facto wurde die Verwirklichung dessen hintertrieben. Diesen eigentlich rechtswidrigen Zustand beschönigen bürgerliche Juristen damit, dass Artikel 41 „bereits wegen Zeitablaufs erledigt“37 sei. Wenn man beachtet, dass das Bürgerliche Gesetzbuch sehr viele Paragraphen enthält, die noch aus der Zeit des Kaiserreichs stammen38, so ist dieses Argument nicht schlüssig. Wo es politisch nicht passt, gilt offenbar nicht der Grundsatz: Recht ist solange gültig, bis es abgeschafft worden ist. Gesetze sind theoretisch für die Ewigkeit verfasst. Die Sozialisierung kam nicht automatisch durch die Annahme von Artikel 41, sondern es wurde vier Jahre lang über deren Durchführung debattiert, die letztendlich nicht umgesetzt worden ist. Eigentlich ist Artikel 41 ein nicht umgesetzter Beschluss, ein unausgeführter Regierungsauftrag. Die bürgerlichen Landesregierungen sind über diesen hinweggegangen, als würde er nicht existieren. Im Zusammenhang mit dessen Nichtumsetzung wurden auch weitere fortschrittliche Artikel praktisch wirkungslos. Es obliegt dem werktätigen Volk, um die Umsetzung der eigenen Rechte zu kämpfen.

Das ist eine unserer Aufgabe in der Zukunft.

1 Zit. nach: Walter Mühlhausen „Die Entstehung der hessischen Verfassung 1946“, Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Wiesbaden 2015, S. 11.

2 Vgl. Ebenda, S. 15.

3 Vgl. Ebenda, S. 14.

4 Zit. nach: Ebenda, S. 9.

5 „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, Bd. 6, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 206.

6 Zitate aus der Hessischen Verfassung nach dem Faksimile der am 11. Dezember 1946 unterzeichneten Ausgabe.

7 Vgl. „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, Bd. 6, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 206.

8 Siehe: „Geheimbericht der US-amerikanischen Militärregierung Hessen über die Reichweite der Sozialisierung“ (23. Oktober 1947) In: Holger Gorr „Verdammte Geduld“, Hrsg.: IG Metall Verwaltungsstelle Herborn, Herborn 1997, S. 643/644.

9 Siehe dazu: Walter Mühlhausen „Die Entstehung der hessischen Verfassung 1946“, Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Wiesbaden 2015, S. 20.

10 Vgl. „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, Bd. 6, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 206.

12 Karl Marx „Lohn, Preis und Profit“ (Mai/Juni 1865) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 16, Dietz Verlag, Berlin 1962, S. 132.

13 Vgl. Hessischer Landtag, I. Wahlperiode, Stenographischer Bericht über die 90. Sitzung (Wiesbaden, den 25. Oktober 1950, 9 Uhr), S. 3134.

14 Vgl. Ebenda, S. 3135.

18 Vgl. Hessischer Landtag, I. Wahlperiode, Stenographischer Bericht über die 90. Sitzung (Wiesbaden, den 25. Oktober 1950, 9 Uhr), S. 3138.

19 Ebenda, S. 3139.

20 Vgl. Ebenda, S. 3140.

21 Vgl. Ebenda, S. 3141.

22 Vgl. Ebenda, S. 3143.

23 Vgl. Ebenda, S. 3146.

24 Vgl. Ebenda, S. 3147.

25 Vgl. Ebenda.

26 Ebenda, S. 3148.

27 Ebenda, S. 3149.

28 Siehe: Ebenda, S. 3150.

29 „Hessen nach dem Zusammenbruch“ (1976) In: Eugen Kogon „Ein politischer Publizist in Hessen“, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1982, S. 29.

30 Vgl. Walter Mühlhausen „Die Entstehung der hessischen Verfassung 1946“, Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Wiesbaden 2015, S. 22.

31 „Aufruf des Freien Gewerkschaftsbundes Hessen zur Annahme des hessischen Verfassungsentwurfs (Auszug)“ (15. November 1946) In: Holger Gorr „Verdammte Geduld“, Hrsg.: IG Metall Verwaltungsstelle Herborn, Herborn 1997, S. 638.

32 Ebenda, S. 639.

33 Siehe: „Aufruf des Freien Gewerkschaftsbundes Hessen, Bezirk Dillenburg, zum Generalstreik“ (11. November 1948) In: Ebenda, S. 653/654.

34 Zit. nach: „Podiumsdiskussion“ (4. November 2016) In: (Hrsg.) Jürgen Kewer „Zwischen Kriegsende und modernen Ansprüchen: 70 Jahre Hessische Verfassung“, Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Wiesbaden 2017, S. 26.

35 Eberhard Schmidt „Die verhinderte Neuordnung 1945-1952“, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1970, S. 69.

36 Georg D. Falk „Einführung“ In: (Hrsg.) Jürgen Kewer „Zwischen Kriegsende und modernen Ansprüchen: 70 Jahre Hessische Verfassung“, Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Wiesbaden 2017, S. 6.

37 Martin Will „Art. 31 GG: Bundesrecht bricht Landesrecht – Anspruch und Wirklichkeit der Hessischen Verfassung“ In: (Hrsg.) Jürgen Kewer „Zwischen Kriegsende und modernen Ansprüchen: 70 Jahre Hessische Verfassung“, Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Wiesbaden 2017, S. 15.

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