Gleich unter Gleichen(?) – Zum 100. Jahrestag der Gründung der Sowjetunion

Es ist nun schon ein ganzes Jahrhundert vergangen seit der Gründung der Sowjetunion, des ersten sozialistischen Staates der Welt. Die Gründung war ein Fanal, das die Menschen weltweit erreichte, wie das Bibelwort: „Höret, alle Völker!“1 Die Sowjetunion war aber zu keiner Zeit der erstrebte „Internationalstaat des Weltproletariats“, sie war eher ein Großrussland mit der Anerkennung der Autonomie für die größten Nationalitäten – auch wenn diese in vielen Fällen missachtet worden ist. Das ist nicht rein „bösem Willen“ geschuldet, sondern vielfach den historischen Bedingungen. Ein sozialistischer Staat, der aus dem vormaligen Kaiserreich Russland entstanden ist mit relativer Bevölkerungsmehrheit der Russen, der Dominanz der russischen Sprache und der russischen Traditionen, kann nicht plötzlich ein nicht-russischer Staat werden. Lenins Vorschlag, dass die russische Sprache nicht verbindliche Amtssprache sein sollte2 und dass die Sowjetunion eher eine Konföderation als eine Föderation sein sollte, in der die russische Sowjetrepublik nicht allzu dominant wäre3, erwiesen sich als unrealistisch. Andererseits erwiesen sich seine Warnungen vor dem großrussischen Chauvinismus4 als zutreffend.

Dennoch kann man keineswegs sagen, dass die Sowjetunion nur ein sozialistischer Staat gewesen sei, in dem der großrussische Chauvinismus ohne Beschränkung grassierte. So wurden beispielsweise das weißrussische und das ukrainische Volk erstmals als vom russischen Volk getrennte Nationalitäten anerkannt und mit entsprechenden Sowjetrepubliken von Anfang an mit Autonomie versehen. Auch wenn viele Genossen die Existenz des großrussischen Chauvinismus praktisch bestreiten, so verhalten sie sich wie die französischen Chauvinisten, die sich als Weltbürger verstanden wissen wollen, aber deren Welt nur aus Franzosen besteht. Genauso ist der Fokus im Hinblick auf die Sowjetunion fast ausschließlich auf Russland gerichtet, während die anderen, angeblich gleichberechtigten, Völker der Sowjetunion eher als eine Art „Anhang“ betrachtet werden, was den Blick bis heute vernebelt. Entsprechend ist die Sicht auf das russische Volk positiv, während die anderen Sowjetvölker als „abtrünnige Verräter“ gesehen werden, als besäßen diese Nationen nur einen Wert, wenn sie unter russischer Vorherrschaft bestehen. Diese Sicht erhält Aktualität dadurch, dass die Genossen mit einer solchen Sichtweise sich bedingungslos hinter Putin stellen und ihm seine imperialistischen Märchen im Hinblick auf die Ukraine unkritisch abnehmen, obwohl dieser in seinen Artikeln und Reden Lenin auf das übelste verunglimpft hat. So beschwerte sich Putin am 12. Juli 2021 in einem Artikel darüber, dass die Sowjetunion die Ukraine „unter dem Vorwand des großrussischen Chauvinismus“ ukrainisiert habe5. Für einen großrussischen Chauvinisten wie Putin gibt es keinen großrussischen Chauvinismus – schuld sind immer nur andere. Am 21. Februar 2022 beschwerte sich Putin darüber, dass Lenin innerhalb der Sowjetunion Land von Russland abgetrennt hätte, was „harsch für Russland“ gewesen wäre6. Putin ging sogar soweit, Lenins Nationalitätenpolitik offen zu attackieren: Was das historische Schicksal Russlands und seiner Völker betrifft, waren Lenins Prinzipien der Staatsentwicklung nicht bloß ein Fehler; sie waren schlimmer als ein Fehler.“7 Es ist beschämend, dass solche Worte Putins keinen Aufschrei unter den betreffenden Genossen ausgelöst hat, sondern Stillschweigen oder gar Zustimmung. Den erwähnten Genossen liegt offensichtlich am Putinismus mehr als am Leninismus.

Diese Genossen halten sich dennoch für Befreier der Ausgebeuteten und Unterdrückten, obwohl sie sich auf die Seite des russischen Imperialismus schlagen. In Worten zeigen sie Mitgefühl, in ihren Taten zertreten sie es. Lenin sagte über solche Art von Leuten, dass sie „Sozialimperialisten“, also „Sozialisten in Worten, Imperialisten in der Tat“8 seien. Der Begriff mag durch die K-Sekten der 70er Jahre in Verruf geraten sein, aber hier trifft er zu – in seiner ursprünglichen Bedeutung. Man kann solchen Genossen auf Abwegen nur zurufen: „Deine Augen sind zu rein, als dass du Böses ansehen könntest, und dem Jammer kannst du nicht zusehen! Warum siehst du dann aber den Treulosen zu und schweigst, wenn der Gottlose den verschlingt, der gerechter ist als er? Du lässt es den Menschen gehen wie den Fischen im Meer, wie dem Gewürm, das keinen Herrn hat.“9 Selbst wenn man anerkennen möge, dass die Situation Anfang des Jahres so verwirrend gewesen wäre, dass man Putin aufs Wort hätte glauben können, so ist dem längst nicht mehr so.

Von der propagierten „Entnazifizierung der Ukraine“10, die anfangs als Ziel verkündet worden ist, ist nichts mehr übriggeblieben. Seit der Annexion des Donbass und Chersons geht es in der Ukraine militärisch nicht mehr vorwärts für Russland, und selbst Putin scheint kriegsmüde geworden zu sein. So bat er am 22. Dezember 2022 um Friedensgespräche. Das verkündete Ziel ist nicht mehr die „Entnazifizierung der Ukraine“, sondern die „Beendigung des Krieges“11. Die Ukraine verlangt für einen Frieden aber die Rückgabe der annektierten Staatsgebiete, was Russland wiederum ablehnt. Der Krieg wird also noch eine Weile weitergehen, wenn auch mit gebrochener Lanze auf russischer Seite.

Die „Sonderoperation“, wie Russland den Krieg offiziell nennt, ist allerspätestens seit der Mobilmachung vom September keine mehr12. Wenn Putin behauptet, dass „99,9% für die Interessen des Mutterlandes“13 kämpfen wollen würden, so meint er damit klar die imperialistischen Interessen des russischen Kapitals. Er spielt dabei den Widerstand herunter, als sei er nicht existent. Dabei gab es durchaus Demonstrationen gegen die Mobilmachung14. Die Opposition zu Putin innerhalb Russlands beträgt garantiert mehr als 0,1%, wie Putin es selber am liebsten hätte. Die Russländische Föderation ist kein Staat für die Mehrheit des werktätigen russischen Volkes, wie es die Sowjetunion war, sondern eine bürgerliche Diktatur.

Es ist bekannt, dass Putin die Auflösung der Sowjetunion schon vor Jahren als „größte geopolitische Katastrophe der Menschheitsgeschichte“ bezeichnete15. Er beschwor am 21. September 2022 in einer Ansprache den Fatalismus, dass der Westen Russland nun genauso aufspalten wolle wie 1991 die Sowjetunion16. Selbst wenn der Westen solche Absichten hegen könnte, um Russland als imperialistischen Rivalen zu erledigen, so ist die Anführung der Sowjetunion als Beispiel dennoch scheinheilig. Die Sowjetunion war von der Gesellschaftsordnung her ein Staat, den er als bürgerlicher Machthaber nicht ausstehen kann. Er sprach am 24. Februar 2022 bloß vom „totalitären Sowjetregime“17, so wie es die von ihm verhassten westlichen Politiker auch tun. Außerdem hat Putin nicht denselben Blick auf die Sowjetunion wie wir Marxisten. In einem Interview im Dezember 2021 sprach Putin davon, dass 1991 „das historische Russland unter dem Namen der Sowjetunion untergegangen“18 sei. Aus Putins Sicht war die Sowjetunion also nie mehr als ein zaristisches Russland, das man mit roten Fahnen versehen hat, wie sich nicht zuletzt in seinen Ansprüchen auf die Ukraine als „integraler Teil Russlands“ zeigt. Möglichst viele der früheren Sowjetrepubliken eng an sich zu binden, bleibt das Ziel.“19, schreibt die Tagesschau. Das stimmt, es ist aber nicht mehr dasselbe wie zu Sowjetzeiten. Russland versucht seine imperialistischen Interessen in den Ex-Sowjetrepubliken durchzusetzen, so zum Beispiel auch, als es im Januar 2022 Proteste gegen die pro-russische Regierung Kasachstans gab. Russland hält seine (Semi-)Kolonien notfalls mit Gewalt eng bei sich. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht vom US-Imperialismus, lediglich in der wirtschaftlichen und militärischen Potenz.

Das ukrainische Volk besitzt keinen Heiligenschein – man muss es nicht einmal besonders mögen, so wie allzu viele Genossen das russische Volk übermäßig mögen, als sei es das auserwählte Volk – aber dennoch kann man ihm nicht die Existenz absprechen, so wie Putin. Die ukrainische Nation ist keine bürgerliche Erfindung, das ukrainische werktätige Volk ist so real existierend wie seine Arbeiterklasse. Man kann mit den Leninschen Prinzipien, auf denen die Sowjetunion fußte, auf kaum eine schlimmere Weise brechen, als wenn man dem großrussischen Chauvinismus Putins nach dem Munde redet. Letztendlich kann nur die ukrainische Arbeiterklasse selbst sich von den Machthabern in Kiew befreien. Die Wiedereinsetzung eines russlandfreundlichen Marionettenregimes oder gar die Annexion der ganzen Ukraine durch Russland würde nur ein Joch durch ein anderes tauschen, es nicht abschaffen.

Will man von der Sowjetunion lernen, so kann die Lehre nicht lauten „Immer auf der Seite Russlands!“, sondern nur „Immer auf der Seite der Werktätigen aller Völker!“.

1 2. Chronik 18, 27.

2 Siehe: „Resolution zur nationalen Frage“ (September 1913) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 19, Dietz Verlag, Berlin 1977, S. 420.

3 Siehe: „Über die Bildung der UdSSR“ (26. September 1922) In: Ebenda, Ergänzungsband II, Dietz Verlag, Berlin 1971, S. 443 ff.

4 Siehe bspw.: „Notiz für das Politbüro über den Kampf gegen den Großmachtchauvinismus“ (6. Oktober 1922) In: Ebenda, Bd. 33, Dietz Verlag, Berlin 1977, S. 358.

7 Ebenda.

8 „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (Januar – Juni 1916) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 22, Dietz Verlag, Berlin 1971, S. 290.

9 Habakuk 1, 13-14.

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