Hauptsache gegen Israel? – Zur Israel-Palästina-Frage
Der Israel-Palästina-Konflikt ist mal wieder ganz oben in den Schlagzeilen wie seit Jahren nicht mehr. Es zeigt sich wieder einmal, dass viele Genossen keine klare Haltung in dieser Frage besitzen und deshalb schwanken zwischen einer Verurteilung der Hamas-Angriffe und blinder Unterstützung jeglicher Aktionen von palästinensischer Seite, ungeachtet dessen, wer der politische Akteur ist.
In der bundesdeutschen Politik werden die Raketenangriffe auf Israel durch die Hamas besonders thematisiert
Als Schlussfolgerung des Naziregimes kamen die Worte „Nie wieder!“ heraus. Wir Marxisten benutzen diese Worte genauso wie die bürgerlichen Politiker. Wir verstehen diese Worte aber anders. Wir meinen damit: „Nie wieder Faschismus!“ Sie meinen damit: „Nie wieder Kritik an Israel!“1. Genauso wie Angela Merkel 20082, so sagte auch Olaf Scholz kürzlich: „Die Sicherheit Israels und seiner Bürger ist Staatsräson.“3 Das heißt: Die Sicherheit des palästinensischen Volkes ist der Bundesregierung gleichgültig. Der hessische Justizminister Roman Poseck (CDU) fordert sogar, dass die Ablehnung des „Existenzrechts Israels“ unter Strafe gestellt werden soll4. Alle Staaten existieren – nur Israel soll ein „Existenzrecht“ erhalten. Auch hier spielen die (Über-)Lebensinteressen des palästinensischen Volkes gar keine Rolle. Die AfD stellte im Bundestag sogar Anträge, palästinensische Organisationen zu verbieten, humanitäre Hilfe gegenüber Palästina einzustellen und Druck auf die Palästinensische Autonomiebehörde auszuüben5. Es zeigt sich hierbei, dass die AfD eben nicht „antisemitisch“ ist, sondern, im Gegenteil, ein regelrechter Israel-Fanclub – noch offenkundiger und unverhaltener als die anderen bürgerlichen Parteien. Ihnen gefällt Israel so sehr, weil deren rechtsextreme Regierung ihnen gewissermaßen ein Vorbild ist. Die Netanjahu-Regierung ist noch schlimmer als die Orbán-Regierung in Ungarn und die PiS-Regierung in Polen, ist aber im Gegensatz von den europäischen bürgerlichen Politikern nicht der Kritik ausgesetzt.
Der israelische Nationalmythos ist in der zionistischen Bewegung begründet. Deren Anschauungen unterscheiden sich aber vom Endergebnis Israel. Theodor Herzl gilt als der geistige Gründer Israels, da er in seinem 1896 erschienen Buch „Der Judenstaat“ die Gründung eines jüdischen Nationalstaates forderte, der in Israel als verwirklicht angesehen wird. In diesem Buch schrieb er zum Beispiel: „Wo wird man uns denn mögen, solange wir keine eigene Heimat haben? Wir wollen aber den Juden eine Heimat geben. Nicht, indem wir sie gewaltsam aus ihrem Erdreich herausreissen. Nein, indem wir sie mit ihrem ganzen Wurzelwerk vorsichtig ausheben und in einen besseren Boden übersetzen.“6 Problem an dieser Aussage ist, dass die Juden miteinander wenig gemein hatten (und außerhalb Israels bis heute haben), abgesehen von ihrer gemeinsamen Religion. Herzl erkannte auch an, dass die Juden nicht einmal mehr eine gemeinsame Sprache sprechen: „Wir können doch nicht Hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiss genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu verlangen? Das gibt es nicht.“7 Durch Bemühungen des israelischen Staates wurde das Hebräische wiederbelebt. Davor ist es über nahezu Jahrtausende reine Liturgiesprache gewesen. Herzl schlug vor, einen „Sprachenföderalismus“ wie in der Schweiz zu schaffen. Das wäre unrealistisch gewesen. Ein solcher jüdischer Staat hätte eher an die babylonische Sprachverwirrung erinnert als an einen Nationalstaat. Eines muss man dem israelischen Staat lassen: Er hat es geschafft aus den jüdischen Einwanderern verschiedenster Herkunft durch die Etablierung des Hebräischen eine gemeinsame israelische Nationalität zu schaffen. Herzl schrieb: „Der Glaube hält uns zusammen, die Wissenschaft macht uns frei.“8 Die „Einheit im Glauben“ ist mehr verkündet als wahr. Die Hälfte der Israelis sind säkularisiert9, also nicht wirklich gläubig. Israel ist nicht der „Staat der Juden“, sondern lediglich der Staat der Israelis – ein Nationalstaat und kein Glaubensstaat. Das sieht man auch daran, dass den meisten Israelis biblische Gebote nichts gelten. Im zweiten Buch Mose steht geschrieben: „Einen Fremdling sollst du nicht bedrücken und bedrängen; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen.“10 Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Palästinenser nicht einheimisch, also „Fremde“, seien, so gibt es den Israelis kein biblisches Recht, sie zu unterdrücken. Die israelische Nation begründet sich im Kern auf biblische Ansprüche, hält sich aber nicht an die religiösen Regeln des Judentums.
Es gab auch einmal einen Vorschlag der Briten, die Juden in Uganda anzusiedeln11, den Herzl persönlich angenommen hätte, aber unter den Zionisten auf Widerstand stieß. Das hätte die Kämpfe um die nationale Vorherrschaft bloß auf die Rücken anderer Menschen aufgebürdet. Eine Neugründung eines Nationalstaates auf bereits besiedeltem Territorium führt, egal wo auf der Welt, zu Vertreibungen und gewaltsamen Unrecht gegenüber den autochthonen Einwohnern.
Der israelische Zionismuskritiker Shlomo Sand verglich Israel 2009 mit einem Kind, das aus einer Vergewaltigung hervorgegangen sei: Man müsse es anerkennen, obwohl der Entstehungsprozess unrechtens war12. Das ist die einzig realistische Haltung in der Israel-Palästina-Frage. Es gibt bis heute Leute, die Israel nicht anerkennen wollen. Dazu gehören leider auch einige Genossen, die nicht von den realen materiellen Bedingungen ausgehen wollen. Die israelische Nation existiert, auch wenn es wohl im Nachhinein gesehen besser gewesen wäre, die jüdischen Vorfahren der Israelis wären in Europa geblieben.
Der Spruch „From the river to the sea“ (Vom Fluss bis zum Meer) – gemeint sind der Fluss Jordan und das Mittelmeer – ist im Hinblick auf Palästina unrealistisch und würde letztendlich einen Völkermord in die andere Richtung bedeuten. Das ist für palästinensische Islamisten nicht hinnehmbar, weil sie es nicht wahrhaben wollen, dass ein Stück Land aus dem „Haus des Islams“ herausgebrochen worden ist. Andererseits gibt es auch Genossen, die diese hohle Phrase für „besonders revolutionär“ halten. In der Realität ist es aber Israel, das vom Jordan bis zum Mittelmeer reicht – mit immer kleiner werdenden palästinensischen Homelands in der Westbank und im Gazastreifen. Mittlerweile lebt die Hälfte der Palästinenser nicht mehr in der Region Israel-Palästina, sondern im Ausland.
Shlomo Sand erwiderte 2009 in einem Interview auf die Frage, ob der Israel-Palästina-Konflikt primär Israels Schuld sei: „Leider, Israel versteht nichts als Gewalt. Der Grund, warum es am Anfang des 21. Jahrhunderts unmöglich ist, einen gerechten Frieden zu erreichen, sind nicht die Raketen, sondern die Schwäche der Palästinenser.“13 Er führte anschließend fort, dass Israel seit 1973 keiner existenzbedrohenden Gefahr mehr ausgesetzt war und eine der hochgerüstetsten Armeen der Welt besäße. Rein militärisch sind die Palästinenser dem chancenlos unterlegen in einem offenen Krieg.
Die Angriffe der Hamas sind nicht allein auf den nationalen Befreiungskampf des palästinensischen Volkes gegen die israelische faschistische Besatzung zurückzuführen. Wäre dem nämlich so, dann hätte der Fokus der Raketen auf Angriffen gegen militärische Ziele gelegen. Angegriffen wurden aber vor allem zivile Ziele und – wie die Geiselentführungen zeigen – war dies kein Versehen, sondern Absicht. Es geht diesen islamistischen Terroristen darum, die Zivilbevölkerung nach Möglichkeit zu dezimieren. Die Hamas sind mit ihrer islamistischen Ausrichtung nicht weniger faschistisch als der zionistisch ausgerichtete israelische Staat selbst.
Selbst der saudische Fernsehsender mit Sitz in den VAE Al-Arabija sendete Kritik am Angriff der Hamas. Die ägyptische Moderatorin Rascha Nabil fragte Chalid Maschal, den Führer der Hamas: „Wie kann man verlangen, dass der Westen und die Welt im Allgemeinen die palästinensische Sache unterstützen, während die Dinge, die die Hamas israelischen Zivilisten angetan hat, Schlagzeilen machen?“ und „Ist es Teil der Ideologie der Hamas, Zivilisten so zu behandeln?“14 Sie fragte ihn auch, ob er sich bei Israel entschuldigen würde, aber er verlangte eine Entschuldigung von Israel. Man erkennt daran, dass die Hamas auch in den arabischen Staaten nicht unumstritten sind mit ihren Taten.
Die Kommunistische Partei Israels gibt der „faschistischen rechten Regierung“ Israels die Schuld an der Eskalation aufgrund der Okkupation palästinensischer Gebiete, aber kritisierte auch die Angriffe auf unschuldige Zivilisten15. Ofer Cassif, Abgeordneter die KP Israels in der Knesset, sagte gegenüber Al Jazeera: „Nichts rechtfertigt die Verbrechen und Massaker, die heute in Südisrael verübt worden sind.“16 Er merkte aber an, dass die Eskalation an sich eine Folge der Okkupation sei, und forderte die Unabhängigkeit Palästinas. Die israelischen Genossen sind also durchaus in der Lage ein differenziertes Urteil zu fällen: Zum einen kritisieren sie den Terror der Hamas, zum anderen kritisieren sie die Apartheidspolitik Israels gegenüber den Palästinensern.
Der Terror der Hamas ist nicht zu rechtfertigen, auch wenn man die Apartheid Israels kritisieren mag. Das israelische Volk ist, obwohl es das Staatsvolk eines Apartheidregimes ist, nicht gewissermaßen „von Geburt aus böse“. Aus muslimischer Sicht sind die Israelis aber „von Geburt aus böse“, was aber daran liegt, dass der Islam besonders Juden nach dem Leben trachtet. Im Koran wird behauptet: „Du wirst sicher finden, daß diejenigen Menschen, die sich den Gläubigen gegenüber am meisten feindlich zeigen, die Juden und die Heiden sind.“17 Damit erklärte Mohammed die Juden zu Erzfeinden der Muslime. In einem Hadith aus dem al-Buchari steht: „Ihr werdet die Juden bekämpfen, bis einer von ihnen Zuflucht hinter einem Stein sucht. Und dieser Stein wird rufen: ´Komm herbei! Dieser Jude hat sich hinter mir versteckt! Töte ihn!´“18 Der Islam ruft also offen zum Mord an Juden auf. Das Resultat ist Terrorismus gegenüber Zivilisten – nicht nur in Israel. Man braucht aber deshalb auch nicht auf den Zug aufzuspringen, wie Netanjahu, die Angriffe der Hamas als das „schlimmste Verbrechen gegen Juden seit dem Holocaust“ zu bezeichnen19. Für diese Aussage ist das Ausmaß bei weitem zu gering. Man muss sich aber im Klaren sein, dass die Islamisten, sollten sie Israel militärisch besiegen, einen neuen Holocaust anrichten würden. Ein solches Szenario ist aber in keiner realistischen Sichtweite.
Ein Marxist kann Terrorismus nicht unterstützen. Lenin wandte sich gegen den individuellen Terror. So schrieb er 1903 in einer Resolution für den II. Parteitag der SDAPR:
„Der Parteitag lehnt den Terror, d. h. das System individueller politischer Morde als Mittel des politischen Kampfes entschieden ab, da es ein gegenwärtig im höchsten Maße unzweckmäßiges Mittel ist, das die besten Kräfte von der wichtigen und dringend notwendigen Organisations- und Agitationsarbeit ablenkt, die Verbindung der Revolutionäre mit den Massen der revolutionären Bevölkerungsklassen zerstört und sowohl bei den Revolutionären selbst als auch bei der Bevölkerung im allgemeinen völlig verkehrte Vorstellungen von den Aufgaben und Methoden des Kampfes gegen die Selbstherrschaft weckt.“20
Grund für die Ablehnung des Terrorismus ist nicht Pazifismus – das hat die Geschichte gezeigt. Der Grund war und ist, dass es sich beim Terrorismus um kein geeignetes Kampfmittel handelt. Terrorismus mag zwar einige Individuen töten, aber letztendlich stürzt er kein System. Das zeigt sich am Beispiel der Tötung Schleyers durch die RAF – als Altnazi und SS-Mann verdiente er durchaus die Hinrichtung, aber diese hatte keinen nachhaltigen Effekt. Dafür zerstört der Terrorismus aber die Bande mit den Massen, weil diese davon abgestoßen werden. Natürlich kann man im Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis sagen, dass es „egal“ sei, weil den Israelis genauso der Terror der israelischen Armee gegenüber den Palästinensern egal gewesen sei. Das ist aber kurzsichtiger gedacht als der Blickradius eines Maulwurfes. Dadurch, dass die Hamas die israelische Zivilbevölkerung terrorisieren, wächst die Unterstützung für Vergeltungsmaßnahmen auch in jenen Teilen der israelischen Bevölkerung, die von der zionistischen Propaganda nicht betroffen gewesen sind. Sie bestätigen im Prinzip die israelische Regierungspropaganda und man kann es als keinen Erfolg bezeichnen, wenn Israel ein paar zivile Verluste hinnehmen muss, dafür aber ein Vielfaches an Palästinensern tötet.
Es ist etwas Anderes, wenn Palästinenser mit israelischen Sicherheitskräften zusammenstoßen – egal ob Polizei oder Militär – und dabei einige von diesen getötet werden. Das kann man, angesichts der Apartheid gegenüber den Palästinensern durch die israelische Regierung, durchaus rechtfertigen. Das ist eben berechtigte Notwehr. Neben den Raketenangriffen gab und gibt es auch seit dem 7. Oktober 2023 militärische Auseinandersetzungen mit der israelischen Armee21. Diese sind durchaus gerechtfertigt. Ob diese siegreich für die palästinensische Seite ausgehen können, ist nicht nur fraglich, sondern so gut wie ausgeschlossen.
Unsere Haltung als Marxisten kann eigentlich nur noch sein, dass eine Einstaatenlösung befürwortet wird, die einen binationalen Einheitsstaat aus Palästinensern und Israelis schafft. Seit der Besetzung der Westbank existiert ohnehin de facto eine Einstaatenlösung, die, je mehr Zeit vergeht, bloß den Völkermord an den Palästinensern vorantreibt. Gideon Levy, ein israelischer Apartheidkritiker, macht bereits seit Jahren diesen Vorschlag ohne Gehör zu finden. Wir sollten diesem Vorschlag mehr Gehör verschaffen, denn er ist der einzige realistische Vorschlag. Dieser könnte vergangenes Unrecht nicht ungeschehen machen, aber für die Zukunft weiteres Unrecht verhindern. Die Vergangenheit steht unabänderlich fest, möge man auch Geschichtsbücher in verfälschender Weise umschreiben, und die Gegenwart ist deren Resultat, aber die Zukunft ist noch nicht festgeschrieben, ist noch veränderbar. Je länger am toten Pferd einer Zweistaatenlösung festgehalten wird, umso unwahrscheinlicher wird eine tatsächliche Lösung. Das Festhalten an dieser leeren Phrase bedeutet in der Praxis nämlich, dass sich an den bestehenden Verhältnissen nichts ändert. Selbst Netanjahu sprach sich jahrelang in Worten für eine Zweistaatenlösung aus22 und man kann an der realen Praxis ja klar erkennen, wie wenig wert diese Worte waren. Am 31. Dezember 2022 sagte er, dass Israel „sein eigenes Land nicht besetzen“ könne23, mit Bezug auf die Siedlungen in der Westbank. Damit ist Palästina aus Netanjahus Sicht mittlerweile von der Weltkarte weggefegt. An die Zweistaatenlösung glauben mittlerweile übrigens weder Israelis noch Palästinenser mehrheitlich24. Dieser Zug ist abgefahren – eigentlich schon vor etlichen Jahren.
Mögen diese Ausführungen eine Orientierung in dieser heißen Frage geben.
1 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw41-de-regierungserklaerung-970542 In der Bundestagsdebatte sind es mal wieder vor allem die Grünen, die diesen Ausspruch für ihre Zwecke bemühen, so wie Joschka Fischer 1999 den Einmarsch in den Kosovo mit den Worten „Nie wieder Auschwitz!“ versuchte zu rechtfertigen.
2 https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-796170
4 https://www.fnp.de/hessen/hessen-konsequenzen-bei-leugnen-des-existenzrechts-israels-zr-92591115.html
7 Ebenda.
8 Ebenda.
10 2. Mose 22, 20.
13 https://www.versobooks.com/en-gb/blogs/news/1678-israel-does-not-understand-anything-but-force-an-interview-with-shlomo-sand (Englisch)
15 https://maki.org.il/en/?p=31248 (Englisch)
16 https://maki.org.il/en/?p=31251 (Englisch)
17 Sure 5, 82.
18 „Sahih al-Buhari“, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1991, S. 311.
20 „Entwürfe kleinerer Resolutionen“ (Juni/Juli 1903) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 6, Dietz Verlag, Berlin 1956, S. 473.