Ist die Bibel nicht mehr als ein „Verdummungsbuch“? – Oder: Soll sich eine historisch gewachsene Kultur selbstentkernen?

Genosse Heinz Ahlreip meldete sich wieder einmal in der Offen-siv zu Wort, diesmal zum Überthema „Studium des Marxismus-Leninismus“. Es gibt prinzipiell an diesem Artikel nichts auszusetzen. Dennoch habe ich „zwei Härchen in der Suppe“ gefunden, die aus meiner Sicht nicht so stehen gelassen werden können: 1. Das pauschale Abtun der Bibel als „Verdummungsbuch“; 2. Eine positive Sicht auf Martin Luther.

Genosse Ahlreip sagt über die Bibel: Man darf nicht von mir verlangen, dass ich mich in dem großen abendländischen Verdummungsbuch auskenne, das uns in der Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen keinen Fuß weiterbringt, im Gegenteil.“1 Will man etwa Thomas Müntzer vorwerfen, er habe die Bauernmassen mit einem „Verdummungsbuch“ zur Revolution geführt? Die DDR schätzte Thomas Müntzer als frühbürgerlichen Revolutionär, auch wenn seine reformatorische Leistung nur eine Randnotiz fand. Vielleicht ist es genau das, was Genossen Ahlreip zu so einer fatalen Pauschalattacke auf die Bibel verleitete.

Abgesehen davon sollte man durchaus erwarten, dass man sich wenigstens im Neuen Testament auskennt. Schließlich sind diese Texte das unmittelbare Fundament des Christentums. Es stimmt nicht, dass diese Texte uns „keinen Fuß weiterbringen“. Die Bibel, vor allem das Neue Testament, enthält progressive Stellen.

Markus 10, 25: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.“

Matthäus 6, 24: „Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“

Matthäus 19, 21-22: „Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach! Da der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt davon; denn er hatte viele Güter.“ Diese Worte richtete Jesus an den reichen Jüngling.

Apostelgeschichte 2, 44: „Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam.“

Apostelgeschichte 4, 32: „Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam.“

Diese Stellen belegen, dass es in der Bibel doch etwas „zu holen“ gibt. Dies zeigte sich während dem Großen Deutschen Bauernkrieg und fortschrittlichen Reformatoren wie Thomas Müntzer, wie auch in später christlich-sozialistischen Strömungen.

Natürlich kann man aus der Bibel Verse zitieren, die gegen uns sprechen, denn die Bibel ist eine Zusammensetzung verschiedener Einzelbücher verschiedener Autoren zu verschiedenen Zeiten. Aber genau diese Mixtur ist es, die es zu einem kulturhistorischen Anker für die westliche und auch die deutsche Kultur macht, besonders in der Lutherübersetzung. Selbst wenn man kein Christ ist, so kann man die kulturelle Bedeutung der Bibel doch nicht einfach abtun. In China gelten Aussagen von Konfuzius und Menzius, von Laozi und Zhuangzi als Sprichwörter, obwohl viele weder Konfuzianer noch Daoisten sind und diese Texte mythologische Gestalten und Wunder enthalten. Auf vergleichbare Weise gelten in Deutschland Bibelverse in ihrer Lutherübersetzung als Sprichwörter. Die Bibel enthält durchaus Weisheiten, die man kennen sollte – und sei es nur als rhetorisches Repertoire. Bildung schadet nie, Ignoranz hingegen immer. Auch wenn man an die religiöse Botschaft der Bibel nicht glaubt, kann man sie durchaus als eine Art philosophischen Steinbruch benutzen. Melchior Grimm sagte einmal: „Seitdem die Priester keine Wunder mehr tun, befassen sich die Philosophen damit.“2 Die Bibel reflektiert, ganz atheistisch betrachtet, einen Meilenstein in der Geschichte der Bewusstseinsentwicklung. Die Bibel als „Verdummungsbuch“ abzutun, weil in ihr Wunder und Unsterblichkeit beschrieben werden, der kann auch gleich den griechischen Philosophen Platon wegen ähnlicher Ansichten auf den Index setzen lassen. Es ist falsch, wenn solche jahrtausendealte Kulturgüter mit einer beschimpfenden Bemerkung abgetan werden, als seien sie wertlos.

Es war schon ein Fehler, dass die germanischen Göttergeschichten in Deutschland nicht aufgezeichnet worden sind, wie es glücklicherweise die isländischen Edda nachgeholt haben. Der griechisch-römische Polytheismus ist auch aus diesem Grund ein ganzeuropäischer Kulturschatz – allein schon dadurch, dass dessen Göttersagen aufgezeichnet worden sind und diese griechisch-römische Philosophie und Literatur als antike Klassiker gelten. Das, obwohl auch dort viele Anschauungen vertreten werden, die religiös sind oder zumindest nicht dem heutigen Erkenntnisstand der Wissenschaft entsprechen. Man muss historische Texte im historischen Kontext lesen und beurteilen. Gerade daran kann man als Marxist den historischen Materialismus erproben. Atheistische Borniertheit ist dabei fehl am Platz. So borniert waren nicht einmal die frühen Christen, dass sie ihre eigenen Überzeugungen nicht hinterfragt hätten. Paulus schrieb im 1. Korintherbrief: Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.3 Vielleicht sollten Atheisten mal genauso ihren antireligiösen Eifer hinterfragen? Genosse Ahlreip verwirft die Bibel wegen ihres religiösen Inhalts, will aber, dass Genossen konservative Zeitungen wie die FAZ lesen4. Rein wegen des Informationsgehalts kann es nicht sein, denn bürgerliche Zeitungen liefern stets ihre Ideologie gleich mit, wenn auch nicht immer auf eine so plumpe Weise wie die Bild-Zeitung. Wieso sollte man dann nicht als Teil der kulturellen Bildung die Bibel lesen? Auf der einen Seite abschirmen wollen, auf der anderen Seite den Hafen aufreißen. Auch dazu kennt die Bibel eine Weisheit: „Wie ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.“5 Man kann die Bibel nicht zum „Verdummungsbuch“ erklären aufgrund ihres Inhalts, ohne in der selben Logik die bürgerliche Presse auch als „Verdummungspresse“ bezeichnen zu müssen. Genau dies geschieht bei Genosse Ahlreip aber nicht.

Würde man die Bibel einfach zum „Verdummungsbuch“ erklären, wie es Genosse Ahlreip tut, würde man Deutschland zu einem großen Stück kulturell und kulturhistorisch entkernen. Auch der in der DDR vielbeschworene Große Deutsche Bauernkrieg hatte viel mit der Reformation zu tun und allein deshalb schon mit einer Auslegung der Bibel. Das zeigt sich beim Gegensatz von Martin Luther und Thomas Müntzer am deutlichsten. Apropos: Genosse Ahlreip scheint Martin Luther positiv zu sehen.

Martin Luther wurde von Genosse Ahlreip positiv dafür erwähnt, dass er „dem Volk aufs Maul schaute“6. Eine Seite zuvor ereiferte er sich im Sinne einer Sprengung eines Reiterdenkmals von Friedrich dem Großen in Berlin, weil dieser ein reaktionärer Feudalherr war7. Genosse Ahlreip beschwerte sich darüber, dass dieses Denkmal wiedererrichtet worden ist zu DDR-Zeiten. Warum nicht auch darüber, dass die DDR unter Erich Honecker anfing Martin Luther zu feiern, was in der Begehung des Martin-Luther-Jahres 1983 mündete mitsamt einer „fortschrittlichen“ Umdeutung Luthers8. Thomas Müntzer wurde auch weiterhin formell geehrt, aber wie viel ist das noch wert, wenn man These und Antithese gleichzeitig gutheißt? Wenn man, dann noch demjenigen, der diesen Widerspruch aufzeigt, gegenüber sagen würde „Auch du hast recht!“, wäre die Absurdität perfekt. Das wäre die Verwirklichung des Märchens vom vietnamesischen Mandarin, der dem Kläger und dem Angeklagten gleichermaßen recht gibt und, als seine Frau ihm sagte, dass man doch nicht beiden Seiten recht geben könne, ebenfalls sagte: „Auch du hast recht!“9 Offenbar hat Genosse Ahlreip die Belobigung des Hasspfaffen Luther unter Honecker hingenommen und für sich akzeptiert. Dabei versprach er den Fürsten sogar ein Plätzchen im Himmel für die Niederschlagung der revolutionären Bauernschaft10. Abgesehen von dieser konterrevolutionären Haltung Luthers legte dieser auch noch eine Art Blaupause für die Nazis auf dem Gebiet der Judenfrage vor: Sein Buch „Von den Juden und ihren Lügen“. Dieses Buch besteht aus Vernichtungsphantasien gegenüber den Juden, die getrieben sind von religiösem Wahn. Ich denke, man kann Luther ruhig so nennen, wie Thomas Müntzer ihn nannte: Dr. Lügner11. Wenn man schon Friedrich den Großen in die Luft jagen möchte – wieso dann nicht auch Luther? Schließlich waren beide ideologische Vertreter des Absolutismus.

Jedenfalls wäre es ein Akt moderner Bilderstürmerei, wollte man ein Reiterdenkmal von Friedrich dem Großen sprengen lassen, als wäre damit das Stück deutsche Geschichte, das mit dem preußischen Absolutismus verbunden ist, ausgelöscht. Stattdessen sollte man solche Denkmäler mit Infotafeln versehen, die in Schlaglichtern aufzeigen, wie Handeln und Denken dieser Personen gewesen ist. Dadurch, dass man die eigene Geschichte entkernt, verblödet das Volk nur noch mehr und ist umso anfälliger für ideologische Beeinflussung durch den Klassenfeind. Wenn man nicht einmal weiß, wie die Reaktionäre der Geschichte hießen und was sie taten – wie will man dann von den Massen Bewusstsein abverlangen? Persönliche Emotionen sind ein schlechter Berater bei der Forderung nach politischen Aktionen. Ansonsten explodiert einem, in diesem Fall buchstäblich, der Kopf.

Wie bereits erwähnt, waren dies die „zwei Härchen in der Suppe“. Da diese nun herausgegriffen worden sind, kann man das verbliebene Mahl nun genießen.

1 Heinz Ahlreip „Zum Studium des Marxismus-Leninismus“ In: Offen-siv 5-2022, S. 123.

2 Melchior Grimm „Mesmer in Paris“ In: „Was ist Aufklärung? – Thesen, Definitionen, Dokumente“, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2010, S. 87.

3 1. Korinther 15, 14.

4 Vgl. Heinz Ahlreip „Zum Studium des Marxismus-Leninismus“ In: Offen-siv 5-2022, S. 126.

5 Matthäus 7, 2.

6 Vgl. Heinz Ahlreip „Zum Studium des Marxismus-Leninismus“ In: Offen-siv 5-2022, S. 129.

7 Vgl. Ebenda, S. 128.

9 Vgl. „Du hast recht“ In: (Hrsg.) Pham Duy Khiem „Vietnamesische Märchen“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1972, S. 64 ff.

10 Vgl. Martin Luther „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ (Mai 1525) In: Thomas Müntzer „Schriften und Briefe“, Diogenes Verlag, Zürich 1989, S. 188.

11 Siehe bspw.: „Hochverursachte Schutzrede“ (1524) In: Ebenda, S. 107.

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