Lenin und der Klassenkampf im Sozialismus – Zum Gedenken an seinen 150. Geburtstag

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Vom revolutionären Standpunkt aus gesehen ist Lenin ein großer Sieger der Revolution, ein Heiliger der Revolution, das beste Beispiel eines Revolutionärs.“1 – Sun Yatsen

Am 22. April 1870 wurde Lenin geboren, somit wäre er in diesem Jahr 150 Jahre alt geworden. Ich könnte zu diesem Anlass seine Lebensgeschichte in einem Abriss darbieten, der eine lückenhafte Biographie darstellt in Kurzfassung darstellt und längst bekannte Allgemeinplätze über die Bedeutung seiner Imperialismustheorie, der Organisation einer Avantgardepartei, der Diktatur des Proletariats, der Kollektivierung und dem Aufbau des Sozialismus darlegen. Aber ich denke, damit würde ich dem Anlass am wenigsten gerecht werden. Das wurde in Gedenkreden und Gedenkartikeln in den letzten fast 100 Jahren Jahr für Jahr zu genüge getan. Stattdessen will ich auf etwas hinweisen, was viele nicht wissen, was viel zu lange Zeit vergessen worden ist: Lenins Theorie vom Klassenkampf im Sozialismus.

Es war nicht Mao Tsetung, der diese Theorie erstmals aufstellte. Er entwickelte sie lediglich weiter, hauptsächlich während der Großen Proletarischen Kulturrevolution. Das ist vielen nicht bekannt, weil die Revisionisten die Existenz des Klassenkampfes im Sozialismus leugneten. Nicht bloß die Leugnung der Notwendigkeit der Revolution auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 war ein großer Rückschlag, abgesehen von den ökonomischen Folgen, sondern auch die Deklarierung des „Staats des ganzen Volkes“ und der „Partei des ganzen Volkes“ auf dem XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 hinterließen einen massiven ideologischen Schaden für die kommunistische Weltbewegung. Dass dies Schäden hinterließ, das mögen nur Revisionisten zu leugnen, von denen die meisten unlängst offen in die Phalanx der Bourgeoisie eingetreten sind. Was genau verloren worden ist, dessen scheinen sich manche nicht recht bewusst geworden zu sein. Deshalb ist es so wichtig an diese Theorie Lenins zu erinnern und ihre beständige Bedeutung herauszustellen.

Im November 1919 erschien in der „Prawda“ ein Artikel Lenins, den er im Oktober 1919 verfasste, der den Titel trägt „Ökonomik und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats“. Dort schrieb Lenin: „Der Klassenkampf verschwindet nicht unter der Diktatur des Proletariats, sondern nimmt nur andere Formen an.“2 Die Diktatur des Proletariats wird in der ganzen Zeit benötigt bis zum Übergang zum Kommunismus, weil erst dort alle Klassen, und das im Weltmaßstab, beseitigt sein werden. Den sozialistischen Staat, damit also die Diktatur des Proletariats, vorher absterben zu lassen, würde bedeuten, vor den ausländischen Imperialisten zu kapitulieren. Karl Marx sagte schon in seiner „Kritik des Gothaer Programms“: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“3 Die Diktatur des Proletariats bleibt also bis zum Kommunismus bestehen. Dem war sich auch Lenin bewusst: „Die Diktatur des Proletariats ist der aufopferungsvollste und schonungsloseste Krieg der neuen Klasse gegen einen mächtigeren Feind, gegen die Bourgeoisie, deren Widerstand sich durch ihren Sturz (sei es auch nur in einem Lande) verzehnfacht und deren Macht nicht nur in der Stärke des internationalen Kapitals, in der Stärke und Festigkeit der internationalen Verbindungen der Bourgeoisie besteht, sondern auch in der Macht der Gewohnheit, in der Stärke der Kleinproduktion. Denn Kleinproduktion gibt es auf der Welt leider noch sehr, sehr viel; die Kleinproduktion aber erzeugt unausgesetzt, täglich, stündlich, elementar und im Massenumfang Kapitalismus und Bourgeoisie. Aus allen diesen Gründen ist die Diktatur des Proletariats notwendig, und der Sieg über die Bourgeoisie ist unmöglich ohne einen langen, hartnäckigen, erbitterten Krieg auf Leben und Tod, einen Krieg, der Ausdauer, Disziplin, Festigkeit, Unbeugsamkeit und einheitlichen Willen erfordert.“4 Der Sozialismus kämpft in seiner ganzen Bestehenszeit gegen bürgerliche Ideen und Praktiken, gegen die Restauration des Kapitalismus. Diese richtige und wichtige Theorie wurde von Stalin jedoch negiert.

Stalin negierte den Klassenkampf im Sozialismus nach 1936. Auf dem XVIII. Parteitag der KPdSU im März 1939 sagte er: „Die Funktion der militärischen Unterdrückung innerhalb des Landes kam in Wegfall – starb ab –, denn die Ausbeutung ist vernichtet, Ausbeuter gibt es keine mehr und daher auch niemanden, der zu unterdrücken wäre. Anstelle der Funktion der Unterdrückung erhielt der Staat die Funktion, das sozialistische Eigentum vor Dieben und Plünderern des Volksguts zu schützen. Die Funktion des militärischen Schutzes des Landes vor Überfällen von außen blieb völlig erhalten, es blieben folglich auch die Rote Armee, die Kriegsmarine, ebenso wie die Straforgane und der Abwehrdienst, die notwendig sind zur Aufdeckung und Bestrafung von Spionen, Mördern und Schädlingen, die von den ausländischen Spionagediensten in unser Land geschickt werden.“5 Das war im Bezug auf die „zweite Phase“ nach 1936. Stalin erkannte den Klassenkampf in der Übergangsphase vom Kapitalismus zum Sozialismus an und sprach sogar davon, dass dieser sich konsequenterweise verschärft6. Manch einer mag anführen, dass Stalin im März 1937 sagte: „Es ist notwendig, die faule Theorie zu zerschlagen und beiseite zu werfen, daß der Klassenkampf bei uns mit jedem Schritt unseres Vormarsches mehr und mehr erlöschen müsse, daß der Klassenfeind in dem Maße, wie wir Erfolge erzielen, immer zahmer werde.“7 Worauf bezog sich Stalin hier? Auf die Unterstützung von extern: „Man muss im Auge behalten, daß die Reste der zerschlagenen Klassen in der UdSSR nicht allein dastehen. Sie genießen die direkte Unterstützung unserer Feinde jenseits der Grenzen der UdSSR. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass die Sphäre des Klassenkampfes sich auf das Gebiet der UdSSR beschränke. Spielt sich der Klassenkampf mit einem Ende innerhalb der UdSSR ab, so reicht das andere Ende in das Gebiet der uns umgebenden bürgerlichen Staaten. Das kann den Resten der zerschlagenen Klassen nicht unbekannt sein. Und eben weil sie es wissen, werden sie auch künftig hin ihre verzweifelten Vorstöße fortsetzen.“8 Damit ist der Kampf gegen Teile der Werktätigen, die unter dem Einfluss der bürgerlichen Ideologie stehen, nicht erfasst. Diese Aussage steht sogar sehr im Einklang damit, dass „die Funktion der militärischen Unterdrückung im Inland absterben“ würde, denn Stalin sieht die Hauptgefahr von extern kommend, weil die Ausbeuterklassen liquidiert sind. War Stalin dadurch Revisionist, immerhin vertrat Lenin eine richtige These, die er negierte? Das wäre falsch, es war eher ein logischer Fehlschluss. Zu der damaligen Zeit war es logisch anzunehmen, dass der Klassenkampf im Inland praktisch aufhören würde und nur noch von extern angefacht werden könnte, denn zuvor war in keinem Land der Welt die Ausbeutung beseitigt worden. Dennoch war das eine falsche Problemlösung, die nicht minder einschläfernd wirkte, als die falschen Anschauungen, die Stalin zurückwies. So wies Malenkow auf dem XIX. Parteitag der KPdSU darauf hin, dass die soziale Zusammensetzung der KPdSU bedenklich geworden sei9, aber sah darin keinen Anlass zum handeln, redete sich die Situation anschließend schön, indem er behauptete: „Unsere Partei ist stärker und gesünder denn je.“10 Wenn man sich bewusst gewesen wäre, dass eine schlechte soziale Zusammensetzung der Partei dazu führt, dass diese verbürgerlicht, revisionistisch wird, hätte man dann sowas als Bagatelle abgetan? Wohl kaum. Auch Molotow sagt in seinen Gesprächen mit Feliks Tschujew, dass Stalin meinte, die Sowjetunion sei keine Diktatur des Proletariats mehr11. Die Nachforschungen von Grover Furr belegen das unabhängig davon12. Das war Stalins größter Fehler.

Mao Tsetung sah, dass Stalin bei seiner Aussage zum Klassenkampf im Sozialismus selbst inkonsequent geblieben ist. In einer Rede vor dem Politbüro der KP Chinas im Oktober 1966 sagte Mao: „Stalin hat im Jahre 1936 die Theorie vom Erlöschen des Klassenkampfes verkündet, im Jahre 1939 wurden wieder Konterrevolutionäre beseitigt – war das etwa kein Klassenkampf?“13 Mao bezog sich mit der „Beseitigung von Konterrevolutionären“ auf die Moskauer Prozesse. Für Stalin waren es nur noch „Diebe und Spione“. Das war die Verkennung des Klassencharakters dieser Personen. Die KP Chinas unter Mao erkannte den bürgerlichen Klassencharakter von solchen Renegaten an, stürzte in der Großen Proletarischen Kulturrevolution die Revisionisten, die bereits dabei waren, die Oberhand zu gewinnen und den Kurs auf die kapitalistische Restauration zu setzen drohten. Albanien in den 60ern und frühen 70ern, sowie die DVRK kopierten ähnliche Maßnahmen als „Revolutionierung“ und „Revolutionierung und Umgestaltung nach dem Vorbild der Arbeiterklasse“, um den Klassenkampf im Sozialismus fortzuführen und den Revisionismus zu verhüten. Das gab dem Sozialismus dieser Länder einen weiteren Schub nach vorne, verjüngte die Bewegung gewissermaßen. Die Abkehr vom Klassenkampf im Sozialismus unter Hua Guofeng und von Enver Hoxha Ende der 70er Jahre bahnte das Ende des Sozialismus an, indem man dem Revisionismus keinen Widerstand mehr leistete.

Solche Revisionisten wie János Kádár behaupteten, dass der Klassenkampf im Sozialismus nicht bestehen würde14, von der KPdSU ab Chruschtschow ganz zu schweigen. Es ist offensichtlich, dass die Geschichte sie widerlegt hat, abgesehen von den theoretischen Analysen im vornherein. Wir müssen diesen revisionistischen Ballast kritisieren und korrigieren und die Theorie Lenins vom Klassenkampf im Sozialismus begreifen und anzuwenden wissen! Erfüllen wir Lenins Vermächtnis, erkämpfen wir den Sozialismus und verteidigen ihn vor seinen Feinden!

1Zum Tode Lenins“ (25. Januar 1924) In: Sun Yatsen „Reden und Schriften“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1974, S. 281.

2Ökonomik und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats“ (30. Oktober 1919) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 30, Dietz Verlag, Berlin 1961, S. 99.

3Karl Marx „Kritik des Gothaer Programms“ (April/Mai 1875) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 19, Dietz Verlag, Berlin 1987, S. 28.

4Der ´linke Radikalismus´, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ (April/Mai 1920) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 31, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 8.

5Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU(B)“ (10. März 1939) In: J. W. Stalin „Werke“, Bd. 14, Verlag Roter Morgen, Dortmund 1976, S. 229.

6Siehe: „Über die Industrialisierung und das Getreideproblem“ (9. Juli 1928) In: Ebenda, Bd. 11, Dietz Verlag, Berlin 1954, S. 152.

7Über die Mangel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der trotzkistischen und sonstigen Doppelzüngler“ (3. und 5. März 1937) In: Ebenda, Bd. 14, Verlag Roter Morgen, Dortmund 1976, S. 136.

8Ebenda, S. 136/137.

9Siehe: G. Malenkow „Rechenschaftsbericht an den XIX. Parteitag über die Tätigkeit des Zentralkomitees der KPdSU(B)“ (5. Oktober 1952), Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1952, S. 113.

10Ebenda, S. 117.

11Molotov Remembers“, Ivan R. Dee, Chicago 1993, S. 233, Englisch (E-Book).

12http://marxism.halkcephesi.net/Grover%20Furr/1947%20Draft.htm (Englisch) Dies ist ein Kapitel aus dem zweiten Teil von Grover Furrs Artikelserie „Stalin and the Struggle for democratic Reform“ (2005).

13Reden auf einer Arbeitskonferenz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas“ (8. bis 25. Oktober 1966) In: Mao Zedong „Texte“, Bd. VI.1, Carl Hanser Verlag, München/Wien 1982, S. 218.

14Siehe: János Kádár „Die Einheit der Arbeiterklasse ist die Grundlage der Arbeitermacht“ (1974) In: „Macht, Freiheit, Demokratie – Reden und Schriften hervorragender ungarischer Politiker (1974 – 1977)“, Corvina Verlag, Budapest 1978, S. 160.

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