Sollte man die Vergangenheit vergessen? – Über den Zusammenhang von Geschichte und Ideologie
Estnische „Genossen“ äußerten mir gegenüber, dass man die Sowjetunion als sozialistischer Staat vergessen sollte. Entsprechend ist ihre Schlussfolgerung, dass man die Sowjetunion und damit auch die Estnische SSR als Lernmodell des Sozialismus verwerfen sollte. Ihre Schlussfolgerungen sind entsprechend reformistisch. Sie mögen zwar von sich behaupten, dass sie „Marxisten“ seien, aber da sie die reale Umsetzung des Sozialismus in der Sowjetunion und der Estnischen SSR komplett verwerfen, statt kritisch daraus zu lernen, fallen sie geistig vor die Oktoberrevolution zurück.
Es gibt mehr als genug Kritikpunkte an der Sowjetunion. Der großrussische Chauvinismus, den die estnischen „Genossen“ zurecht kritisieren, ist ein solcher. Natürlich haben die Russen diesen stets abgestritten, vor allem in den Reihen der KPdSU-Funktionäre. Ryshkow, der unter Gorbatschow Ministerratsvorsitzender gewesen ist und diesen später kritisierte, schrieb in „Mein Chef Gorbatschow“: „Ich denke, dass weder in Russland noch in der Sowjetunion ein ´großrussischer Chauvinismus´ als staatliche Erscheinung existierte.“1 Eine derartige Ignoranz gegenüber realen Problemen ist unzulässig und bezeichnend dafür, wie wenig Einfühlungsvermögen die Russen in der Sowjetunion für die Belange der anderen Nationalitäten besaßen. Die Kritik an solchen Erscheinungen ist gerechtfertigt, aber darf nicht zu einer Totalnegation führen. Eine Totalnegation führt bloß dazu, dass man aus der Geschichte nicht lernt, sondern sie bloß tabuisiert und zu „weißen Blättern“ in den Annalen der Geschichte erklärt. Man könnte die Esten Esten sein lassen, wenn dieses Problem im Kern keine internationale Bedeutung besitzen würde.
Auch in Deutschland ist eine solche Ansicht vertreten, wenn selbsternannte „Sozialisten“, die meist bloß linke Sozialdemokraten oder Trotzkisten sind, die DDR komplett ablehnen, weil dort Fehler begangen worden sind. Fehlerkritik muss geübt werden, aber diese Art der Totalnegation und somit der Ablehnung der historischen Traditionslinie bedeutet, dass man nicht aus der Geschichte lernt, wie man es in Zukunft besser machen könnte, sondern versucht zu rechtfertigen, wieso ein Stück Sozialismusgeschichte im sprichwörtlichen „Giftschrank“ zu verschwinden habe. Dadurch findet eine konstruktive Auseinandersetzung mit den historischen Erfahrungen genauso wenig statt, wie durch Nostalgiker, die die Vergangenheit in nicht weniger geschichtsklitternder Weise versuchen zu beschönigen. Das verhindert es, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen.
Ohne ein Verständnis für die historischen Prozesse, die zur Herausbildung des Marxismus und seiner Entwicklungsstufen, des Leninismus und des Maoismus, führten, ist auch diese Ideologie nicht zu verstehen. Es gibt in der heutigen Zeit zu viele Menschen, die meinen, dass eine profunde Kenntnis von geschichtlichen Zusammenhängen und eine ehrliche Auseinandersetzung mit diesen „nicht nötig“ sei, was zumeist an ihrer eigenen Bequemlichkeit liegt. Das ist fatal und sorgt dafür, dass diese Menschen die Zusammenhänge der sozioökonomischen Verhältnisse, von denen sie umgeben sind, nicht verstehen. Wenn Genossen, oder welche, die sich für welche halten, sich nicht mit geschichtlichen Grundlagen befassen, sind diese nicht in der Lage, die marxistische Theorie tatsächlich zu verstehen, da sie die historischen Erfahrungen als Anwendungsbeispiele nicht verstehen. Der historische Materialismus ist nicht grundlos ein essenzieller Bestandteil der marxistischen Theorie.
Der historische Materialismus ist die Anwendung des dialektischen Materialismus auf die geschichtlich erwachsenen Bedingungen. Auch das Hier und Jetzt ist ein Stück Geschichte. Man kann die Gegenwart und Zukunft nicht ohne die Vergangenheit verstehen. Es ist kein Wissen bis ins letzte Detail unbedingt notwendig, damit man die wesentlichen Grundzüge der historischen Entwicklung der Klassenkämpfe nachvollziehen kann, wenn auch ein vertieftes Wissen entsprechend mehr Erkenntnisse mit sich bringt. Vergangene Epochen komplett ausklammern zu wollen, weil diese einem subjektiv nicht genehm sind, schadet letztendlich der Analyse der eigenen nationalen Bedingungen und dem Verständnis für das Heute und Morgen.
Ein Historiker ist zwangsläufig auch Ideologe. Jeder Blick auf die Geschichte erfolgt aus gewissen aktuellen Gesichtspunkten, um dieser Schlüsse für das Heute und Morgen zukommen zu lassen. Natürlich ist es theoretisch möglich, Geschichte als bloße unkommentierte „neutrale“ Auflistung von Ereignissen darzustellen, aber dadurch verliert diese jeglichen inneren Zusammenhang und somit jegliche reale Bedeutung. Letztendlich sind Fragen an die Geschichte aus den jetzigen Bedingungen heraus formuliert, um aus der Vergangenheit Lehren für das Heute zu ziehen. Selbst wenn man eine Art „definitives“ Geschichtsbuch verfassen möchte, so lässt sich nach einigen Jahrzehnten die Mentalität des Verfassungszeitpunktes anmerken, wenn auch die historischen Fakten an sich nicht veralten. Kurzum: Aus den geschichtlichen Erfahrungen leitet man Orientierung für das Heute ab, um das Morgen zu erschaffen.
Im Prinzip hatte der jugoslawische Philosoph Mihailo Djuric recht, als er sagte: „Im Grunde ist die Erinnerung wie die Hoffnung eine Voraussetzung der Revolution.“2 Wenn man sich nicht an die Vergangenheit erinnert und aus ihren Bedingungen lernt, ist man genauso aufgeschmissen wie, wenn die Massen keine Hoffnung in den Erfolg des Sozialismus und ein besseres Leben im Allgemeinen setzen. Unsere Aufgabe ist es, aus der Geschichte des Klassenkampfes zu lernen, Erfolge und Fehler kritisch und selbstkritisch gegenüber den Massen anzusprechen und für die Zukunft Hoffnung auf Verbesserungen am System des Sozialismus zu machen. Die Geschichte komplett zu verwerfen oder sie beschönigen zu wollen geht einer notwendigen und überfälligen sachlichen Auseinandersetzung bloß aus dem Weg.
1 Nikolai Ryschkow „Mein Chef Gorbatschow“, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2013, S. 36 (E-Book).
2 Mihailo Djuric „Formen des historischen Bewußtseins“ In: (Hrsg.) Gajo Petrovic „Revolutionäre Praxis“, Verlag Rombach, Freiburg 1969, S. 80.