Sozialist – und keiner weiß, was das ist

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In der linken Szene wird viel über den Sozialismus gesprochen, aber die meisten definieren ihn entweder schwammig oder missbrauchen den Begriff, um Sozialdemokratie zu betiteln. Es herrscht, um es kurzzufassen, völlige Orientierungslosigkeit vor. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung gab im Januar 2020 eine Broschüre unter dem Titel „Lust auf Sozialismus“ heraus. Der Herausgeber Mario Candeias machte in seinem Vorwort Hoffnung darauf, sozialistische Antworten auf Fragen der Zeit dargeboten zu bekommen1. Das Ärgerliche ist, dass die geschürten Erwartungen nicht erfüllt werden und diese Broschüre somit mit ein symptomatischer Ausdruck der erwähnten ideologischen Orientierungslosigkeit ist. Die Beiträge sind so unharmonisch zueinander in ihren Konzeptionen, dass man zwar Quellenmaterial in die Hand bekommt, welches man kontrastieren kann, aber keine theoretische Fortbildung. Das Gesamtbild der Broschüre erscheint auch dadurch nicht rund, weil Beiträge aus verschiedenen Ländern geliefert werden, während Ingar Solty in seinem Beitrag davon schreibt, dass jede Nation eigene Antworten dafür haben müsste, was Sozialismus bedeute2. Von der Länge und der inhaltlichen Tiefe her ist sein Beitrag sozusagen der Leitartikel. Entsprechend ist der Sinn der ausgewählten Einträge im Hinblick auf die Gesamtkonsistenz sehr fraglich. Kommen wir nun aber dazu, die einzelnen Beiträge zu umreißen.

Mario Candeias macht den Anfang mit seinem Beitrag „Zeit für etwas Neues: Darum Sozialismus“. Dieser fängt an mit den Worten: „Der realexistierende Sozialismus ist gescheitert. Aus guten Gründen.“3 Darauf folgt aber keine Analyse. Es ist ein Anfang, der wie ein Ende wirkt. Auf diese Aussage folgt: „Der realexistierende Kapitalismus auch. Letzterer wird keineswegs so schnell abtreten wie der Erstere.“4 Realsozialismus ist ein Begriff, der aufgekommen ist in den 70er Jahren. Dieser Begriff wurde von Revisionisten geschaffen und ist an sich schon unnötig. Oder gibt es auch einen „Surrealsozialismus“? Jedenfalls meint Candeias offensichtlich die sozialistischen Staaten damit im Allgemeinen und sieht es nicht als notwendig an, sich mit ihnen tiefgehend zu befassen.

Candeias fordert, dass man den Kapitalismus nicht weiter durch die Verteidigung des Sozialstaates und durch Regulierung erhalten solle, sondern an einer sozialistischen Gesellschaft arbeiten solle5. Das ist prinzipiell richtig. Natürlich muss man taktisch soziale Errungenschaften verteidigen, aber allzu oft wird sich auf diesen bloßen Abwehrkampf beschränkt. Aus diesem Grund konnte so viel vom Sozialsystem revidiert werden, denn es gab keinen Klassenkampf auf ganzer Linie von proletarischer Seite. Es ist deshalb auch richtig, wenn Candeias fordert, dass der Gegner spezifiziert wird, wenn man den Kampf in der Macht- und Eigentumsfrage führt6. Wenn man wie sozialdemokratische Gewerkschafter herangeht und nichts am Status quo ändert, jammert man darüber, entlassen zu werden und „nichts zu bekommen“ für die jahrelange Arbeit, so wie die IG Metall-Mitglieder in Stefan Wolfs Autoteilezuliefererbetrieb ElringKlinger7. Selbst nach der verkündeten Entlassung gab es Gejammer über die Entlassung und keine Aufregung darüber, dass im kapitalistischen System so etwas rechtlich völlig legitim ist. Sozialdemokratische Gewerkschafter regen sich also über die Folgen auf, ohne nach den Ursachen zu fragen. Zurück zu Candeias.

Candeias meint, dass Umverteilung allein nicht reichen würde und man nicht auf den „Jammer der Besitzendenklasse“ hören sollte, wenn ihnen etwas genommen wird. Die öffentliche Infrastruktur soll wieder vergesellschaftet, Privatisierungen rückgängig gemacht werden, etwa im Bereich der Gesundheit8. Candeias fordert eine „Wirtschaftsdemokratie“, womit er einen sozialdemokratisch vorbelasteten Begriff benutzt, aber dieser nicht im Sinne eines „passivierenden sozialdemokratischen Sozialstaates“ gemeint sei9. Zurecht spricht Candeias davon, dass der Staat die Investitionen in die eigene Hand nehmen muss und entsprechende Investitionsgebiete erfasst werden müssen10. Falsch jedoch ist in diesem Kontext sein Bezug auf den staatsmonopolkapitalistischen Theoretiker Keynes. Mit ihm lässt sich der Kapitalismus nicht überwinden, denn er strebte die bloße Stabilisierung des Kapitalismus trotz zyklischer Krisen an. Bei der Notwendigkeit einer neuen Ökonomie schreibt Candeias über das Wesen der kapitalistischen Ökonomie: „Kapitalistische Ökonomien beruhen auf der Produktion von Waren zur Realisierung eines Mehrwertes, der durch die Arbeit produziert wird, die mehr Wert schafft, als sie kostet.“11 Im Kern ist diese Aussage richtig und weist wieder auf die Lohnarbeit hin mit ihrer Folge, den Primärwiderspruch des Kapitalismus: Der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital. Einzig kritikwürdig daran ist, dass Candeias sich beinahe noch komplexer ausdrückt als wie wir Marxisten es allzu oft tun gegenüber Werktätigen ohne Vorkenntnisse. Wenn man etwas für die breite Masse ohne Vorkenntnisse schreiben will, dann muss man sich einer entsprechenden Ausdrucksweise bedienen.

Candeias landet einige Punkte. So ist es richtig und wichtig, dass man Betriebe vergesellschaftet, sich um eine ökologisch und ökonomisch sinnvollere Städteplanung kümmert, und so weiter. Dennoch sind wesentliche Punkte bei ihm mit falschen Lösungen versehen.

So sollen Schulden aufgenommen werden, um zu investieren (die schwarze Null soll fallen aus Candeias Sicht)12. Problem dabei ist nur, dass man die Schulden plus Zinsen zurückbezahlen muss. Es wäre besser, keine Schulden zu machen und stattdessen sich mit den Mitteln hochzuwirtschaften, die man zur Verfügung hat. Eine Schuldenfalle ist nämlich möglich, wenn die Rückzahlung von Krediten länger dauert, als die effektive Lebenszeit der eingekauften Investitionsmittel.

Ein weiterer Fehler ist es, wenn Candeias an eine „Unumkehrbarkeit“ glaubt. Nicht nur ist eine Unumkehrbarkeit unmöglich, es sei denn, man bekämpft aktiv restaurative Strömungen – was in den revisionistischen Staaten, trotz Verkündung der „Unumkehrbarkeit“, nicht geschehen ist – sondern auch seine Gedanken zu dieser sind entweder schwammig oder lächerlich falsch. So schreibt er: „Eine wirkliche Vergesellschaftung (nicht nur die formelle Verstaatlichung) wäre auch ein wirksamer Schutz gegen spätere Reprivatisierungen.“13 Wirklicher als die Wirklichkeit geht aber nicht. Solange die Menschheit in Klassen gespalten ist, kann eine „wirkliche“ Vergesellschaftung eben nur dadurch erfolgen, dass der sozialistische Staat Betriebe in sein Eigentum überführt. Der sozialistische Staat ist nun einmal die Organisation des gesamten werktätigen Volkes eines Landes. Außerdem setzt Candeias auf das falsche Pferd, wenn er durch eine „Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes“ eine Reprivatisierung verhindern möchte14. Zum einen kann das Grundgesetz verändert werden, wie es seit der Gründung der BRD dutzende Male geschehen ist, zum anderen ist dieser Kurs rein reformistisch ausgerichtet, betrachtet den bürgerlichen Staat fälschlicherweise als „klassenneutral“.

Candeias wirft an einer Stelle den Begriff „sozial-ökologische und feministische Offensive“ in den Raum15, ohne zu erklären, was damit gemeint sein soll. Mir ist bewusst, dass es sich dabei um gerne benutzte, ja übernutzte Modebegriffe der linken Szene handelt. Und genau darin liegt das Problem, wenn diese bloß als leere Worthülsenschlagworte verwendet werden. Es heißt lediglich, dass soziale und ökologische Ziele nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Candeias erwähnt in diesem Kontext den Green New Deal von Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez positiv16. Es ist durchaus richtig, dass beide Ziele nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, aber sich auf ein sozialdemokratisches Konzept aus den USA dabei zu berufen, ist unnötig, falsch und sogar der Sache schädlich. Dazu später mehr.

Es wird bei Candeias von „partizipativer Planung“ gesprochen17 und von „negativen Erfahrungen autoritär-zentralistischer Planung“18. Kybernetische Konzepte werden kurz angerissen, wie auch Schumpeters Befürwortung von Wirtschaftsplanung. Diese Aussagen wirken zusammengeworfen, abgesehen von einer Verbalattacke auf die Planwirtschaft der sozialistischen Staaten, die einfach kategorisch als „autoritär-zentralistisch“ abgetan wird.

Ein Problem von Candeias Ausführungen im Allgemeinen ist, dass selbst die positiven Aspekte nicht sehr detailreich ausgearbeitet werden. Es erscheint eher als „Das muss getan werden und das auch noch.“, also ein bloßes oberflächliches Anreißen von notwendigen Arbeitsfeldern. Diese angerissenen Punkte eignen sich natürlich, um eine weitergehende Debatte zu führen unter Genossen. Dafür hätte es aber auch gereicht, die Themenbereiche kurz zu benennen und gar nicht erst in die falsche Richtung zu argumentieren. Als theoretisches Konzept eignen sich Candeias´ Aussagen nämlich nicht.

Zumindest sagte Candeias: „Das Adjektiv ´sozialistisch´ verweist auf die Praxis (nicht auf eine fertige Blaupause).“19 Das heißt, nimmt man die Worte konsequent, seine Aussagen sind keine Blaupause. Als solche wären sie auch nicht ausreichend.

Auf Candeias folgen Beiträge von Bernie Sanders und seinen Anhängern. Es ist fragwürdig, was Sozialdemokratie, die sich in Amerika als „sozialistisch“ bezeichnet, mehr als die bloße Worthülse mit dem Sozialismus zu tun haben soll.

So ist eine Rede von Bernie Sanders als Beitrag enthalten, die er am 12. Juni 2019 vor der George-Washington-Universität hielt. Er begann seine Rede damit, dass Amerika an einem Wendepunkt stehe und man sich autoritärer und oligarchischer Kräfte zur Wehr setzen müsse20. Zu den amerikanischen Verhältnissen führte er aus: Lasst mich klarstellen, was ich unter Oligarchie verstehe. In den Vereinigten Staaten verfügen heute drei Familien über mehr Vermögen als die untere Hälfte der Bevölkerung, also etwa 160 Millionen Amerikaner*innen. Das oberste ein Prozent besitzt mehr Vermögen als die unteren 92 Prozent. Derzeit fließen 49 Prozent allen neu erworbenen Einkommens an dieses oberste ein Prozent. Tatsächlich sind die Einkommens- und Vermögensungleichheit in den Vereinigten Staaten heute größer als zu jedem anderen Zeitpunkt seit den 1920er Jahren. Wenn ich von Oligarchie spreche, meine ich also nicht nur, dass die Superreichen immer reicher werden, sondern auch, dass zig Millionen Arbeiter*innen im reichsten Land der Welt unter unglaublicher wirtschaftlicher Not leiden und verzweifelt ums Überleben kämpfen. An die 40 Millionen Amerikaner*innen leben heute in Armut. Heute Nacht werden 500.000 Menschen auf der Straße schlafen. Fast die Hälfte des Landes hangelt sich von Lohn zu Lohn und zig Millionen unserer Mitmenschen sind lediglich einen Unfall, eine Scheidung, eine Krankheit oder eine Entlassung vom wirtschaftlichen Ruin entfernt. Während es vielen öffentlichen Schulen im ganzen Land an Ressourcen fehlt, um unsere Jugend adäquat auszubilden, sitzen heute in den Vereinigten Staaten mehr Menschen im Gefängnis als in jedem anderen Land.“21 Amerika ist also ein imperialistischer Staat mit den charakteristischen Gesellschaftskrankheiten des Spätkapitalismus. Aber statt bei den USA zu bleiben, macht Sanders einen Rundumschlag gegen Staatsoberhäupter anderer Länder: „Weltweit geht die Herausbildung der Oligarchie mit der Erstarkung autoritärer Regime einher, wie man unter anderem an Putin in Russland, Xi in China, Mohammed bin Salman in Saudi-Arabien, Rodrigo Duterte auf den Philippinen, Jair Bolsonaro in Brasilien und Viktor Orbán in Ungarn sieht. Diese Staatsoberhäupter kombinieren eine korporatistische Wirtschaft mit Rassismus und Autoritarismus. Sie verwandeln den allgemeinen Unmut über Ungleichheit und eine sich verschlechternde wirtschaftliche Situation in gewaltsame Wut gegen Minderheiten – seien es Migrant*innen, ethnische Minderheiten, religiöse Minderheiten oder die LGBT-Gemeinde. Und um Widerstand zu unterdrücken, beschneiden sie die Demokratie und Menschenrechte. Natürlich haben wir in den Vereinigten Staaten unsere eigene Version dieser Bewegung – sie wird von Präsident Trump und seinen republikanischen Unterstützer*innen angeführt, die unser Land spalten wollen und ebendiese communities angreifen. Trump betrachtet diese autoritären Staatsoberhäupter als Freunde und Mitstreiter.“22 Nichts steht mir ferner die erwähnten Staatsführer anderer kapitalistischer Staaten in Schutz zu nehmen. Es ist aber rhetorisch und sachlich fraglich, wieso Bernie Sanders von den Problemen in den USA kurz so weit ausholt. Letztendlich sind die USA das Land, in dem diese Probleme am größten sind. Offenbar schimmert dort bei ihm der typische amerikanische Chauvinismus durch, indem er mit dem Finger in erster Linie auf alle anderen zeigt. Abgesehen davon ist Sanders´ Rede ideologisch sehr schwach. Die Stelle, an der er erwähnte, dass der New Deal von Präsident Franklin D. Roosevelt von seinen Gegnern als „Sozialismus“ abgetan wurde23, erweckt den Eindruck, dass Bernie Sanders´ „demokratischer Sozialismus“ nicht mehr sein würde als ein neuer New Deal. Dieser Eindruck täuschte nicht. Mit Verweis auf die Bill of Rights sprach Sanders: „Wir müssen einsehen, dass im 21. Jahrhundert im reichsten Land der Welt ökonomische Rechte Menschenrechte sind. Das ist es, was ich unter demokratischem Sozialismus verstehe.“24 Dies zeigte sich auch in seinen Forderungen, die mit diesem „demokratischen Sozialismus“ verbunden sind. Sanders forderte:

„– das Recht auf eine anständige Arbeit mit einem existenzsichernden Lohn

das Recht auf gute Gesundheitsversorgung

das Recht auf eine umfassende Bildung

das Recht auf erschwinglichen Wohnraum

das Recht auf eine saubere Umwelt

das Recht auf eine sichere Rente.“25

Dabei handelt es sich um nicht mehr als ein sozialdemokratisches Kurzprogramm. Diese Maßnahmen kann man nicht als sozialistisch bezeichnen, denn sie umfassen lediglich systeminterne Reformen. Sanders bezeichnete außerdem die staatlichen Maßnahmen zur Rettung von Wallstreet-Konzernen ebenfalls als „Sozialismus“, aber eben als „Sozialismus im Interesse der Wallstreet“26. Der Grundgedanke ist nicht prinzipiell falsch, dass der Staatsmonopolkapitalismus der „Sozialismus der kapitalistischen Konzerne“ ist, im Hinblick darauf, dass die Profite privatisiert und die Verluste vergesellschaftet werden. Trotzdem ist dieser Begriff sachlich fehl am Platz. Insgesamt ist diese Rede also bloß eine Art sozialdemokratische Wahlkampfrede, bestenfalls. Diese Rede ist in einer Broschüre, die sich mit dem Thema Sozialismus befasst, so fehl am Platz, wie der Missbrauch von Fachbegriffen bei Bernie Sanders selbst.

Auf die Rede von Bernie Sanders folgt in der Broschüre ein kurzer Beitrag von Sarah Leonard, der sich mit Sanders befasst. Leonards Beitrag ist selbst als Debattenbeitrag wertlos. Zu Beginn des Beitrags schreibt sie: Sanders mag ein eher alter weißer Mann sein, der in den Augen seiner Gegner*innen die alte Arbeiterklasse verkörpert und zu Fragen von race und gender wenig zu sagen hat. In den Vorwahlen gelang es ihm dennoch, die Stimmen junger Wähler*innen zu gewinnen. Und auch wenn die Kritik zum Teil berechtigt ist, unterstützt Sanders seitdem aktiv junge Frauen of Color wie etwa Alexandria Ocasio-Cortez. Auch die Tatsache, dass eine wachsende Zahl von jungen linken Politiker*innen, die die gesamte Vielfalt der Bevölkerung repräsentieren, keine Angst mehr hat, sich in der Öffentlichkeit als Sozialist*innen zu bezeichnen, ist mit Sanders Verdienst.“27 Dieser Fokus auf die Identitätspolitik nimmt bei ihr einen großen Rahmen ein, obwohl dieses Thema politisch irrelevant ist. Weiter beschwert sie sich darüber, dass Bernie Sanders mit seinem Fokus auf den New Deal keine klaren Inhalte liefern würde28. Sie arbeitet aber auch kein Alternativkonzept aus. Stattdessen merkt sie lediglich an, dass man sich für eine sozialistische Perspektive vom sozialdemokratischen Diskurs verabschieden müsste29. Die Notwendigkeit von Sarah Leonards Beitrags wird selbst vor dem vagen Kontext nicht ersichtlich. Was sie anspricht, ist entweder irrelevant, oder ersichtlich aus dem Lesen von Bernie Sanders´ Beitrag.

Es folgt darauf ein Beitrag von Johanna Bozuwa. Der Titel „Zwölf Jahre, um alles zu verändern“ ist ungünstig gewählt für ein deutsches Publikum. Dieser Titel erinnert unweigerlich an den Hitler Ausspruch zugeschriebenen, dass man Deutschland nicht mehr wiedererkennen werde, wenn man ihm nur ein paar Jahre Zeit gebe. Nach zwölf Jahren war es vollbracht… Aber zurück zum Inhalt. Dieser Beitrag befasst sich ausschließlich mit dem Green New Deal. Da dieser völlig sozialdemokratisch ist, sei an dieser Stelle wesentlich abgekürzt. Der New Deal von Roosevelt wird retrospektiv positiv betrachtet30 von der Autorin, man solle keine Wahlkampfspenden von der „fossilistischen Kapitalfraktion“ annehmen31 und als „Internationalismus“ wird die Zusammenarbeit zwischen den USA und Großbritannien bezeichnet, wenn diese beiden Staaten gemeinsam für ökologische Ziele arbeiten würden32. Kurzum: Dieser Beitrag ist genauso irrelevant für das Überthema, wie die beiden vorhergehenden.

Generell muss etwas gesagt werden über diese Beiträge von und um Bernie Sanders: Es fehlt bei diesen Beiträgen abgesehen von oberflächlich-sozialdemokratischen Forderungen an tieferen ideologischen Überlegungen. „Nur im Abstand zum Leben spielt das des Gedankens sich ab.“33, schrieb einmal Adorno. Sein revisionistisches Denken war in zu großer Distanz zum realen Leben. Das Denken der Sanders-Anhänger jedoch ist so unreflektiert, dass man es salopp als eine „Flicken-Theorie“ bezeichnen kann. Sanders und seine Anhänger sehen ein soziales Problem des Kapitalismus und suchen sich in der Regel die naheliegendste Lösung dafür heraus. Diese Probleme gäbe es aber überhaupt nicht, wenn man nicht nur sozialdemokratische Politik betreiben, sondern um die Verwirklichung des Sozialismus kämpfen würde. „Wenn du die Wurzeln ausreißt, wie können dann Blätter und Zweige wachsen?“34, sprach einst der japanische Zen-Meister Bassui Tokusho. Das heißt: Es gäbe nichts zu flicken, wenn man kein durchlöchertes System aufrechterhalten würde. Nun weiter.

Verónica Gago, eine Argentinierin, ist die Autorin des nächsten, kurzen Beitrags. Sie bezeichnet den Sozialismus als eine „Utopie mit pragmatischer Seite“, welche sich mit Übergängen befasse35. Der Rest des Beitrags befasst sich aber ausschließlich mit der feministischen Bewegung, der die Lösung der gesellschaftlichen Probleme von der Autorin zugeschrieben wird. Der Begriff Sozialismus hielt in diesem Beitrag also bloß als Nagel her, um das Bild des Feminismus daran aufzuhängen. Es wird nicht einmal dar, wie sich dieser Feminismus ausdrücken soll, abgesehen von Verweisen auf Proteste in Chile. Zusammengefasst ist auch bei diesem Beitrag fragwürdig, welchen Sinn und Zweck dieser erfüllen soll in der Broschüre, da er auf das eigentliche Thema Sozialismus so gut wie gar nicht eingeht.

Ein Beitrag von Étienne Balibar, einem französischen Philosophen, folgt. Dieser enthält vier Thesen. Diese benutzen unnötig komplizierte, pseudo-intellektuelle Begrifflichkeiten, die vage aus dem Marxismus entlehnt sind. So ist in der ersten These von „Staat-Nicht-Staat“, „Markt-Nicht-Markt“ und „Industrie-Nicht-Industrie“36 die Rede. Der Inhalt dieser These soll der Übergang sein, aber dieser wird nicht konkret abgehandelt. In der zweiten These schreibt Balibar über „Nicht-Markt“ und Planung, aber der Inhalt seiner These ist unverständlich37. In der dritten These heißt es: Politik ist nicht vorhersehbar. Sie hängt von Situationen ab, in denen sich ganz unterschiedliche Handlungen miteinander verbinden, die jeweils eine eigene Zeitlichkeit haben. Die Theorie kann die Akteure, die zur Veränderung beitragen, allenfalls beschreiben und bewerten.“38 Diese These stimmt und wiederum auch nicht. Der Grund dafür liegt darin, dass man nicht relativ definitiv sagen kann, in welcher Situation man zum politischen Handeln kommt. Man muss entsprechend den eigenen Prinzipien flexibel auf neue Situationen reagieren. Andererseits gibt es absolut definitive Ziele, wie zum Beispiel die Vergesellschaftung der Monopolkonzerne, die Enteignung von Grundbesitzern und so weiter, die durchaus vorhersehbar sind, weil sie notwendiger Teil der politischen Agenda sind. Die These endet mit einem langen Verweis auf nicht behandelte Dinge: „Durch den Hinweis auf die Elemente Programm, Regulation, Aufstand und Utopie möchte ich deutlich machen, dass sich diese Handlungsweisen qualitativ nach ihrer spezifischen Ebene, ihrer institutionellen Form sowie nach ihren ´Subjekten´ unterscheiden.“39 Hier kann man nur ein großes Fragezeichen an den Rand setzen. Diese Verweise dürfte nur der Autor selbst verstehen. In der vierten These spricht Balibar davon, dass mit der Feststellung, dass die ökologische Katastrophe längst unumkehrbar sei, die Fortschrittsidee mit verschwinden würde. Statt dem Sozialismus würde dadurch der Liberalismus als Sieger der Geschichte akzeptiert werden. Der Punkt, den er damit machen möchte, besteht darin, dass der künftige Sozialismus davon abhängt, wie das Verhältnis zwischen Mensch und Natur zugunsten der Natur gemäßigt wird40. Dieser Punkt enthält Klartext ohne pseudo-intellektuelle Begrifflichkeiten. Andererseits ist er in der heutigen Zeit trivial. Man kann aus diesem Beitrag insgesamt nicht viel Neues herausziehen, wenn man denn überhaupt etwas versteht.

Balibar hat offenbar, ähnlich wie Slavoj Zizek, den Drang, durch die Verwendung möglichst kompliziert klingender Begriffe für relativ einfache Themenkomplexe sich als „großer Theoretiker“ aufzuspielen. Nicht einmal Marx´ und Lenins tiefgründigste Werke sind so unverständlich geschrieben. Und das, was nicht unverständlich geschrieben wurde, sind Binsenweisheiten, die sich jeder selbst zusammenreimen kann. Das macht diesen Beitrag so wertlos. Eine Vier-Käse-Pizza wäre besser als Balibars Thesen. Sie bringt uns dem sozialistischen Ziel zwar genauso wenig näher, aber sie macht wenigstens satt. Mehr Worte sind diese pseudo-intellektuellen Verbalabfälle nicht wert. Nun weiter.

Ingar Solty folgt als Beitragssteller. Sein Beitrag ist der längste und zugleich der geschichtslastigste. Um es nicht in die Länge zu ziehen, sei hier aufgezählt, was so unter anderem von Solty angesprochen wird: Albert Einsteins Artikel „Warum Sozialismus?“ von 1949, die Ausweitung des Sozialismus im Zuge des Zweiten Weltkriegs, die Sowjetverfassung von 1936, das Ahlener Programm der CDU von 1947, der Aufbau des Sozialismus in der DDR und weitere Ereignisse werden angerissen41, wie später auch die kybernetische Planung42. Für den Leser, der gerne Stichwortrecherchen betreibt, ist das eine Fundgrube. Für anders geartete Leser ist dieses Anreißen von vielen Themen auf wenig Seiten ganz sicherlich überfordernd. Neben der Erwähnung von Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ scheint Solty Anton Ackermanns „alternativem Sozialismuskonzept“ positiv gegenüberzustehen43, welches eigentlich bloßer Revisionismus ist. Im Bewusstsein vieler Menschen schien der Kapitalismus jedoch nun alternativlos zu sein.“44, schreibt Solty über die Situation nach 1990. Mit Bezug zu Mark Fisher schreibt Solty auch, dass die Mentalität in die Richtung gewendet wurde, sich eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorstellen zu können45. Diese Punkte sind richtig, aber sie sind allgemein bekannt, denn das ist bis heute die vorherrschende Mentalität. Mit Bezug auf aktuelle Entwicklungen und politische Publizisten schreibt Solty davon, dass die Zeit des „demokratischen Kapitalismus“ vorbei sei und man zu autoritären Formen am übergehen ist46. Der Kapitalismus befinde sich in einer ideologischen Krise, aber die Massen seien sich darüber uneins, wie eine mögliche Alternative aussehen sollte47. Das ist ebenfalls richtig. Aber, das muss ich vorweg anmerken, wird von Solty nicht tiefergehend behandelt in dem Sinne, dass er ein Alternativkonzept anbietet aufgrund der historischen Erfahrungen. Stattdessen stellt er bloß einige historische Eckdaten und Fakten fest, aber begründet kein eigenes Gesamturteil. Stattdessen betreibt er Framing bei einigen Teilbereichen, wie bei Anton Ackermanns revisionistischer Konzeption, die erwähnt, aber nicht elaboriert wird. Kevin Kühnerts Interview vom 1. Mai 2019, wo er die Vergesellschaftung von BMW ins Spiel brachte wird erwähnt wie auch die Kampagne „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ bei der Rückkehr sozialistischer Perspektiven48. Das ist zutreffend, aber wieder einmal etwas Alltägliches, das jeder, der in den letzten Jahren sich nicht völlig von den Nachrichten abgeschottet hat, mitbekommen haben dürfte. Der Aufstieg des Rechtspopulismus wird der zunehmenden Prekarisierung zugeschrieben49, was ebenfalls richtig ist, aber auch bekannt sein dürfte. Solty schriebt über den Begriff des Sozialismus: Die andere Ordnung lässt sich hierbei auch heute nicht anders bezeichnen denn als Sozialismus. Aber nach den historischen Erfahrungen des Sozialismus und im Rahmen der gewaltigen Veränderungen im und mit dem globalen Kapitalismus muss ´Sozialismus´ mit neuem Inhalt und neuem Leben gefüllt werden. Er muss aus den historischen Fehlern seiner Geschichte lernen. Er wird auch nicht aufhören dürfen, die Verbrechen zu benennen, die in seinem Namen begangen wurden, so wie auch Liberalismus und Konservatismus sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen haben (vgl. Losurdo 2011). Der Sozialismus von morgen wird darüber hinaus auf der Höhe der Zeit gedacht werden müssen. Und er muss von den Menschen gemeinsam ersonnen, aufgebaut, entwickelt und ständig verbessert werden, denn er wird demokratisch oder gar nicht sein.“50 Dieses Statement ist teilweise richtig, aber größtenteils falsch. Ein sozialistisches System kann nur mit den Werktätigen zusammen ausgearbeitet werden und die sozialistische Theorie muss mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und der Produktivkraftentwicklung schritthalten. Man kann dem Sozialismus aber keinen „neuen Inhalt“ geben, ohne ihn ideologisch auszuhöhlen und die erwähnten „Verbrechen im Namen des Sozialismus“ sollen natürlich auf die Stalin-Ära anspielen. Prinzipiell ist an Letzterem nichts auszusetzen, wenn es zu verbrecherischen Taten im Namen des Sozialismus gekommen sein sollte. Die Jeshowtschina ist ein Fall, die Roten Khmer unter Pol Pot ebenfalls (wobei er nicht einmal einen sozialistischen Staat schuf). Problematisch wird es nur, wenn diese Aufarbeitung von Verbrechen nur der Delegitimierung der sozialistischen Staaten dienen soll, indem die Geschichte geklittert wird. So behauptet Solty, dass Stalin die Theorie vom Sozialismus in einem Lande erfunden hätte und es diesen nicht geben könne51. Lenin aber war der Autor dieser Idee. So schrieb er im Jahre 1916: Die Entwicklung des Kapitalismus geht höchst ungleichmäßig in den verschiedenen Ländern vor sich. Das kann nicht anders sein bei der Warenproduktion. Daraus die unvermeidliche Schlußfolgerung: Der Sozialismus kann nicht gleichzeitig in allen Ländern siegen. Er wird zuerst in einem oder einigen Ländern siegen, andere werden für eine gewisse Zeit bürgerlich oder vorbürgerlich bleiben.“52 Genau aus dem Wiederkäuen solcher Falschbehauptungen stelle ich die Ehrlichkeit Soltys bei der Verbrechensaufarbeitung in Frage, da er offensichtlich dem trotzkistischen Geschichtsbild kritiklos anhängt. Solty behauptet, es sei „nicht unbedingt von Nachteil“, dass es heute verschiedene Sozialismusvorstellungen gebe53. Das bedeutet, er erkennt das Problem der ideologischen Verwirrung gar nicht an. Das ist ein schwerwiegender Fehler. Diese Aussage hingegen stimmt: „Die sozialistische Bewegung handelt im konkreten historischen Kontext und unter Bedingungen, die sie sich nicht selbst ausgesucht hat.“54 Damit hängt auch diese Tatsache zusammen: „Auch Großunternehmen in Arbeiterselbstverwaltung unterliegen der kapitalistischen Weltmarktkonkurrenz.“55 Wenn sich ein sozialistischer Staat nicht um die Entwicklung der Produktivkräfte auf das Weltniveau kümmert, dann wird er zurückbleiben und wirtschaftlich wie politisch und auch militärisch vernichtet werden. Natürlich ist die Entwicklung der Produktivkräfte nicht das Primat, denn ohne den Klassenkampf als Primat kann die Diktatur des Proletariats nicht erhalten werden. Diese ist das Herzstück des sozialistischen Staates. Solty führt im Schnelldurchlauf die Monopolisierungstendenz aus: „Der Handwerker wurde durch den Industriebetrieb, der kleine Industriebetrieb durch den großen Konzern ersetzt, die Kleinbäuerin durch den Agrarkonzern, der kleine Ladenbesitzer durch das Kaufhaus, das Kaufhaus durch den Online-Handelsmonopolisten. Die anarchische Konkurrenz der Kleineigentümer*innen untereinander wurde also durch die zentrale Planung innerhalb von kapitalistischen Oligopolen und Monopolen ersetzt. Sozialismus bedeutet schließlich auch die Demokratisierung der Wirtschaft durch Überführung dieser privaten Planung in zentrale, demokratische Planung.“56 An dieser Zusammenfassung gibt es im Wesentlichen nichts zu beanstanden, abgesehen vom Gendersternchen. So viel zu den Kerninhalten von Soltys Beitrag im Überblick.

Sein Beitrag findet keinen zufriedenstellenden Abschluss. „Die sozialistische Ordnung, so wie sie in ihrer möglichen allgemeinen Orientierung knapp skizziert worden ist, wird jedoch erst durch eine Bewegung verwirklicht werden, die diese Ordnung im Namen des ´Sozialismus´ anstrebt.“57, schreibt er gegen Ende. Anschließend stellt er eine Reihe von Fragen, die sich im Wesentlichen damit befassen, ob man Sozialdemokratie als ausreichend betrachtet oder wirklich den Sozialismus verwirklichen will58. Die Beantwortung überlässt er dem Leser. Er schließt mit den Worten: „Der Sozialismus ist eine objektive Notwendigkeit. Ob er verwirklicht wird, entscheiden die Subjekte selbst.“59 Diese Aussage ist schwierig, da bei ihm vage bleibt, was den Sozialismus konkret ausmachen soll. Er wurde, wie er selbst sagt, nur „knapp skizziert“. Das bedeutet, dass er eigentlich mehr Hintergedanken besitzt, sie aber nicht ausführt.

Ingar Solty scheint den Anspruch zu besitzen, einen Rundumschlag über den Sozialismus abgeliefert zu haben, auch wenn er dies nicht offen ausspricht. Dieser Rundumschlag ist ein Potpourri, das zwar wesentliche Aspekte aufgreift, aber ein unbefriedigendes Leseerlebnis bietet. Der Grund darin liegt wieder einmal an den Details. Solty spricht viele wichtige Punkte der Geschichte und der ideologischen Diskussionen des vergangenen Jahrhunderts über den Sozialismus an, aber außer dem Leser einen kurzen Überblick darüber zu liefern, was es so alles an Meinungen gab und gibt, geschieht in diesem Beitrag nicht viel. Es ist natürlich positiv, dass ein geschichtslastiger Beitrag Einzug gefunden hat in diese Broschüre und dieser entsprechende historische Hintergründe liefert, denn: Wer nicht aus der Geschichte lernen will, der ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Dennoch mangelt es an der Verbindung zwischen dem Gestern und dem Heute, ganz zu schweigen von dem Morgen. Ingar Solty bietet auch keinen eigenen Lösungsvorschlag an auf Grundlage der historischen Erfahrung, nicht einmal einen groben. Stattdessen überlässt er den Leser sich selbst mit lauter angerissenen historischen Themenbereichen, die nicht ausreichend erläutert werden. So kann man über diesen Beitrag von Solty letztendlich nur das sagen, besonders im Hinblick auf die am Schluss gestellten Fragen, was Bert Brecht im Epilog des „Guten Menschen von Sezuan“ schrieb:

Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen

Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“60

Nach Ingar Solty kommt noch ein Beitrag in der Broschüre vor. Dieser stammt von Alex Demirovic. Der Beitrag beginnt mit einer negativen Bemerkung über Angela Nahles´ Auflösung der Historischen Kommission der SPD im Jahre 201861. Stattdessen sollte sich der SPD-Schatzmeister Dietmar Nietan alibimäßig mit der Parteigeschichte befassen62. Das sorgte für Kritik aus der Partei, da Nietan kein Historiker ist und abgesehen davon wurde diese Abwertung der Geschichte durch die Parteiführung moniert. SPD-Historiker Ernst Faulenbach kritisierte: Die sind immer im Heute. Die haben kein Gestern, und deshalb leider auch kein Morgen.“63 Die Sache dabei ist, dass die SPD als bürgerliche Partei keine historische Perspektive braucht, denn sie versucht die kapitalistische Gegenwart zu verewigen. Ein historisches Bewusstsein benötigt man nur, wenn man über die Grenzen der bestehenden Gesellschaftsordnung hinaus denken möchte. Die SPD hat mit diesem Schritt im Prinzip die letzten Wurzeln zur Arbeiterbewegung hin gekappt. Nun zurück zum Beitrag von Demirovic. Er beschwert sich über diese (marxistische) Sicht auf den Sozialismus: „Tatsächlich sind die Vorstellungen und die Begriffe von Sozialismus Gegenstand der Diskussion und der Kämpfe. So verstanden, gibt es keine von vornherein gültige Bestimmung von Sozialismus, sondern viele Vorschläge, ihn zu definieren. Vielfach umfasste der Begriff besondere soziale Gruppen, die für den Augenblick durchaus zu Recht glauben konnten, die Allgemeinheit zu verkörpern und die nicht verstanden, dass der Begriff von Sozialismus, in dessen Namen sie handelten, ein Kompromiss war, der nur in einer bestimmten Konjunktur von Vielen getragen wurde. Sie wollten diesen Augenblick und diese Allgemeinheit festhalten, die Stabilität erzwingen, konnten der Veränderung der sozialen Konstellation nicht Rechnung tragen, sprachen dort, wo es sich um unterschiedliche Lebensformen und Perspektiven oder gar Widersprüche handelte, von Abweichungen oder sie pathologisierten die Kritiker*innen. Auf diese Weise war der Sozialismus keine offene, freie soziale Organisation des Zusammenlebens, sondern blieb immer noch begrenzt auf bestimmte soziale Gruppen und ihre Lebenszusammenhänge (bestimmte Gruppen der Industriearbeiterschaft, besondere Betriebsweisen, beispielsweise großindustrielle Fabriken in urbanen Regionen, und damit verbundene Formen der Arbeitsorganisation), die den Anspruch auf Allgemeinheit erhoben.“64 Er lässt aus, dass durch Vergenossenschaftlichung Bauernschaft und Kleinbürgertum in den Sozialismus integriert worden ist. Im Kern kritisiert er, dass der Sozialismus auf der Diktatur des Proletariats basiert, also die Arbeiterklasse im Zentrum der politischen Macht sieht. Das spiegelt sich auch darin wider: „Die Staatssozialismen haben es nicht ausreichend versucht oder es ist ihnen nicht gelungen, diese Prozesse der Abstimmung von Allgemein- und vielen partikularen Interessen auf demokratische Weise zu regeln. Obwohl sich die sozialistischen Staaten als demokratische Volksrepubliken verstanden, wurden kaum demokratische Prozesse der Interessenvermittlung in Gang gesetzt. Es wurde zwar vielfach an Parlamenten und Parteien festgehalten. Aber die innere Logik dieser politischen Form wurde blockiert um der Erhaltung des Machtmonopols der kommunistischen oder sozialistischen Parteien wegen: Das Allgemeine war nicht Gegenstand einer offenen Diskussion, sondern der Definitionsmacht der führenden Partei der Arbeiterklasse unterworfen.“65 Man kann durchaus kritisieren, dass die sozialistischen Staaten das Problem des demokratischen Zentralismus nicht zufriedenstellend gelöst haben und allzu oft in bürokratischen Zentralismus abgeglitten sind, der nur noch demokratisch-zentralistisch pro Forma gewesen ist, aber Demirovics kritisiert nicht dieses Kernproblem, sondern greift die Avantgardefunktion der Arbeiterklasse an. So wie aber ein Körper nicht ohne Herz und Hirn überleben kann, so kann der Sozialismus nicht ohne die Diktatur des Proletariats überleben. Der restliche Inhalt des Beitrags wird über den Sozialismus wenig konkret und wiederholt bekannte marxistische Thesen über den Kapitalismus und an einer Stelle, ohne Zitatangabe, den Ausspruch Kants von der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“66.

Auch dieser Beitrag liefert wieder keine tiefergehenden Lehren über den Sozialismus, abgesehen davon, was Demirovic an den sozialistischen Staaten ablehnt. Als ein negativer Diskussionsbeitrag ist Demirovics Broschürenbeitrag geeignet, aber nicht als ein Artikel, der über den Sozialismus aufklären soll. Man kann an ihm typische Kritik am politischen System der sozialistischen Staaten ersehen und anhand dieser Kritik noch einmal die eigenen Positionen überprüfen. Mehr nicht!

Lediglich die Beiträge von Mario Candeias und Ingar Solty in der Broschüre kann man überhaupt als integral in das Oberthema Sozialismus bezeichnen. Die restlichen Beiträge hatten nur wenig mit dem Thema zu tun oder nur wenig zum Thema beizutragen. Wie man ersehen kann, sprechen einige Beiträge ein paar Kernprobleme an, wenn sie ihnen auch nicht die notwendige Aufmerksamkeit in Form einer tiefergehenden Analyse schenken, während andere nichts anderes tun, als sozialdemokratische Phrasen zu dreschen. Diese Broschüre ist weder Fisch noch Fleisch, weder roh noch gar. Insgesamt ist sie, aus marxistischer Sicht, völlig ungenügend, um etwas über den Sozialismus zu erfahren. Die Beiträge sind so widersprüchlich, sodass sie lediglich als Diskussionsgrundlage dienen können, wie man den Sozialismus nicht wird aufbauen können. Es gibt aber sicherlich dennoch einige, die ideologisch nicht gefestigt genug sind, und somit derartig falschen Konzepten auf den Leim gehen. Tamenaga Shunsui schrieb in seinem berühmten Roman über die 47 Ronin: „Niemand ist mehr zu bedauern als derjenige, der sein Leben in die Hände eines Quacksalbers gibt. Leider sind derartige Toren sehr zahlreich, denn zu allen Zeiten ist man eher geneigt gewesen, auf die Betrüger zu hören, als ehrlichen Leuten zu folgen.“67 Allzu oft geraten die Massen und selbst Genossen in das Fahrwasser von ideologischen Quacksalbern. So wie Schwimmer von der Küste weggeschwemmt werden und auf offener See ertrinken, wenn man sie nicht rettet, so werden sie immer mehr von der Wahrheit weggeschwemmt in ein Meer aus bürgerlichen Geistesgiften.

Der Grund dahinter ist, dass die meisten Menschen dem am ehesten Folgen, was ihnen am bekanntesten vorkommt. Was kommt ihnen am bekanntesten vor? Natürlich ein Konzept, das bloß auf eine Reform des Kapitalismus hinausläuft. Aus diesem Grund wäre es zu wenig, diese Broschüre als bloße schlechte Diskussionsvorlage zu bezeichnen. Sie trägt nämlich aktiv zur Desinformation über das Thema Sozialismus bei. Die Aufgabe von uns Marxisten muss sein, die Massenaufklärung auf diesem Gebiet zu erhöhen, indem wir im Kontrast zu solchen sozialdemokratischen Konzepten erklären, was den Sozialismus eigentlich ausmacht.

Diese Aufgabe wird uns niemand abnehmen, nur wir sind dazu in der Lage, die Avantgarde zu bilden.

1 Siehe: Mario Candeias „Vorwort“ In: (Hrsg.) Mario Candeias „Lust auf Sozialismus“, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2020, S. 2.

2 Vgl. Ingar Solty „Warum, darum und wie rum Sozialismus?“ In: Ebenda, S. 55.

3 Mario Candeias „Zeit für etwas Neues: Darum Sozialismus“ In: Ebenda, S. 3.

4 Ebenda.

5 Vgl. Ebenda.

6 Vgl. Ebenda, S. 5.

8 Vgl. Mario Candeias „Zeit für etwas Neues: Darum Sozialismus“ In: (Hrsg.) Mario Candeias „Lust auf Sozialismus“, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2020, S. 6.

9 Vgl. Ebenda, S. 7.

10 Vgl. Ebenda, S. 9.

11 Ebenda, S. 14.

12 Vgl. Ebenda, S. 4.

13 Ebenda, S. 8.

14 Vgl. Ebenda, S. 9.

15 Siehe: Ebenda, S. 11.

16 Vgl. Ebenda, S. 13.

17 Vgl. Ebenda, S. 14.

18 Vgl. Ebenda, S. 15.

19 Ebenda, S. 16.

20 Vgl. Bernie Sanders „Der Weg, den ich demokratischen Sozialismus nenne“ (12. Juni 2019) In: Ebenda, S. 17.

21 Ebenda, S. 17/18.

22 Ebenda, S. 18/19.

23 Vgl. Ebenda, S. 20.

24 Ebenda, S. 21.

25 Ebenda, S. 24.

26 Vgl. Ebenda, S. 22.

27 Sarah Leonard „There is an Alternative“ In: Ebenda, S. 25.

28 Vgl. Ebenda, S. 26.

29 Vgl. Ebenda, S. 27.

30 Vgl. Johanna Bozuwa „Zwölf Jahre, um alles zu verändern“ In: Ebenda, S. 30.

31 Vgl. Ebenda, S. 31.

32 Vgl. Ebenda, S. 34.

33 „Minima Moralia“ In: Theodor W. Adorno „Gesammelte Schriften“, Bd. 4, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2021, S. 143.

34 Bassui Tokusho „Den Menschen befreien“, Angkor Verlag, Frankfurt am Main 2001, S. 104.

35 Vgl. Verónica Gago „Revolution heißt für die Zukunft sorgen“ In: (Hrsg.) Mario Candeias „Lust auf Sozialismus“, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2020, S. 37.

36 Étienne Balibar „Für einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts – vier Thesen“ In: Ebenda, S. 40.

37 Vgl. Ebenda.

38 Ebenda, S. 40/41.

39 Ebenda, S. 41.

40 Vgl. Ebenda.

41 Siehe: Ingar Solty „Warum, darum und wie rum Sozialismus?“ In: Ebenda, S. 42 ff.

42 Siehe: Ebenda, S. 55.

43 Siehe: Ebenda, S. 45.

44 Ebenda.

45 Vgl. Ebenda, S. 46.

46 Vgl. Ebenda, S. 47.

47 Vgl. Ebenda, S. 48.

48 Siehe: Ebenda, S. 49.

49 Vgl. Ebenda, S. 50.

50 Ebenda, S. 51/52.

51 Vgl. Ebenda, S. 53.

52 „Das Militärprogramm der proletarischen Revolution“ (September 1916) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 23, Dietz Verlag, Berlin 1975 , S. 74.

53 Vgl. Ingar Solty „Warum, darum und wie rum Sozialismus?“ In: (Hrsg.) Mario Candeias „Lust auf Sozialismus“, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2020, S. 54.

54 Ebenda.

55 Ebenda, S. 57.

56 Ebenda, S. 58.

57 Ebenda, S. 60.

58 Siehe: Ebenda, S. 60/61.

59 Ebenda, S. 61.

60 Bertolt Brecht „Der gute Mensch von Sezuan“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1964, S. 144.

61 Vgl. Alex Demirovic „Sozialismus und Zurechenbarkeit“ In: (Hrsg.) Mario Candeias „Lust auf Sozialismus“, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2020, S. 67.

64 Alex Demirovic „Sozialismus und Zurechenbarkeit“ In: (Hrsg.) Mario Candeias „Lust auf Sozialismus“, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2020, S. 67/68.

65 Ebenda, S. 68.

66 Siehe: Ebenda, S. 70.

67 Tamenaga Shunsui „Die 47 Ronin – Treue über alles“, Verlag Henricus – Edition Deutsche Klassik, Berlin 2021, S. 55.

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