Um was kämpft Russland in der Ukraine?

Wegen der Ausgabe Offen-siv 5-2022 (Juli-August 2022), die sich mit dem Thema des Ukrainekriegs befasst, sehe ich mich dazu veranlasst, eine auf Nachfrage eines Genossen Anfang Mai abgefasste Ausarbeitung hier zu veröffentlichen.

 

Die russische Intervention in den ukrainischen Bürgerkrieg rief durch die Medien gesteuerte Reaktionen hervor. Seit 2014 schwelt der Bürgerkrieg bereits – aber acht Jahre lang interessierte das kaum jemanden in Deutschland. Das Leid der Zivilbevölkerung im Donbass wurde genauso ignoriert, wie die negativen Folgen des Bürgerkriegs auf die ukrainische Wirtschaft. Der alte Trick, die Deutschen mit „Der Russe kommt!“ aufzuscheuchen, funktioniert noch immer. Es soll hier nicht um den konkreten Kriegsverlauf gehen, sondern um die Interessenfrage Russlands.

Putin kann man keineswegs als ehrlichen Antifaschisten bezeichnen, wie er sich selbst porträtiert1. Acht Jahre lang sah er von außen zu und intervenierte nicht. Außerdem attackierte er Lenin dafür, dass er angeblich die Ukraine „erschaffen“ hätte. „Was das historische Schicksal Russlands und seiner Völker betrifft, waren Lenins Prinzipien der Staatsentwicklung nicht bloß ein Fehler; sie waren schlimmer als ein Fehler.“2, behauptet Putin. Solche Behauptungen können wir nicht aus Opportunismus unwidersprochen im Raum stehen lassen.

Russland ist ein imperialistischer Staat. Einige Genossen wollen dieser Tatsache durch Mentalgymnastik aus dem Weg gehen, indem sie Lenins „Fünf-Punkte-Schablone“ zum Imperialismus anlegen und bei dessen Ausfüllung nicht ganz ehrlich sind. Wie etwa die CPGB-ML. Zur Wiederholung: Lenins „Fünf Punkte“ lauten:

1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen;

2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses „Finanzkapitals“;

3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung;

4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und

5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.“3

Zu Punkt 1 schreibt die CPGB-ML: „Wo sind die russischen Monopole, die unsere Leben dominieren, heute?“

Zu Punkt 2 schreibt die CPGB-ML: Russlands reichste Kapitalisten stecken hauptsächlich in der Industrie, nicht im Finanzwesen; nur eine der 100 größten Banken der Welt ist russisch, die staatseigene Sberbank.“

Zu Punkt 3 schreibt die CPGB-ML: Russlands größte Exporte sind Rohmaterialien, nicht Kapital; wo sind die russischen Finanzkapitaltrusts und -monopole, die weltweit Arbeit ausbeuten und deren Wohlstand nach Russland transferieren?“

Zu Punkt 4 schreibt die CPGB-ML: Solche Kartelle existieren, sie beinhalten aber keine russischen Monopole.“

Zu Punkt 5 schreibt die CPGB-ML: Solch eine Aufteilung hat in der Tat stattgefunden, aber Russland war kein Teil der Aufteilung und erntet nicht die Ausbeute imperialistischer Dominanz und Kriege; in der Tat, sein Hauptverbrechen ist es, jene zu verteidigen, die gegen imperialistische Angriffe kämpfen (Syrien, die Ostukraine) und versucht, sein eigenes Gebiet von imperialistischer Dominanz und Superausbeutung freizuhalten.“4

Hat Lenin davon gesprochen, dass ein Land weltweite Dominanz ausüben müsste, um als imperialistisch zu gelten? So kommt es jedenfalls vor, wenn man die Antworten der CPGB-ML liest. Lenin selbst betonte bei der Abfassung dieser „Schablone“, dass eine allzu kurze Definition zwar „bequem, aber unzulänglich“ sei5. Es ist also nicht nur so, dass die Beantwortung dieser Kriterien nicht ehrlich erfolgte, die schematische Anwendung dieser Kriterien an sich ist schon ein Fehler. Gehen wir dennoch die Punkte durch.

1. Die CPGB-ML schreibt, als müssten die russischen Monopole weltweit dominieren. Gasprom und Rosneft, die russischen Ölkonzerne, wären als international agierende Konzerne zu nennen. Es kommt aber eher auf die Monopole innerhalb Russlands an, die ein imperialistisches Potential bilden. Auch sie gibt es6. Die CPGB-ML bestreitet nicht einmal russische Monopolkonzerne, spielt deren Bedeutung aber runter. Das ist in einer marxistischen Analyse nicht zulässig.

2. und 3. Deutschland als Exportweltmeister hat auch mehr Waren- als Kapitalexport. Trotzdem wird keiner es wagen zu behaupten, dass die BRD kein imperialistisches Land sei. Geht man nach dem Bankkapital, so ist Russland mit der Sberbank unter den 100 größten Banken der Welt auf Platz 60 abgeschlagen. Andererseits erscheinen die westlichen Staaten aber vor den chinesischen Banken wiederum auch als Winzlinge7. Demnach könnte man sogar behaupten, dass der chinesische Imperialismus größer sei als der amerikanische, was nicht richtig wäre. Lenin sprach davon, dass der Kapitalexport im Vergleich zum Warenexport „besonders wichtige Bedeutung“ erlangen müsste und NICHT, dass der Kapitalexport zu dominieren hätte, wie die CPGB-ML behauptet. Der Sachverhalt ist also komplizierter, als die CPGB-ML es darstellt.

4. Da die CPGB-ML China ebenfalls nicht als imperialistisch charakterisieren will, erscheint ihr die Blockbildung von China und Russland seit 2001 als unverdächtig. Russische und chinesische Firmen bilden zusammen Monopolverbände, um sich gegen den US-Imperialismus zu behaupten. Es erscheint so, als gäbe es für die CPGB-ML nur den US-Imperialismus und sein NATO-Anhängsel, während der Rest der Welt sich davor in Acht nehme. Das erinnert an Kautskys „Ultraimperialismus“-Theorie, nach dem die imperialistischen Staaten ab einem gewissen Punkt aufhören würden, sich untereinander zu bekämpfen und stattdessen den Rest der Welt gemeinsam ausbeuten würden8. Die westlichen Staaten bilden gewissermaßen die „Ultraimperialisten“ in den Augen der CPGB-ML, denn abgesehen von den NATO-Staaten scheint es ja keine imperialistischen Blöcke mehr zu geben. Daraus erklärt sich auch die außenpolitische Mentalgymnastik der CPGB-ML.

5. Die CPGB-ML erkennt Syrien nicht als russische Semi-Kolonie an oder die Ukraine vor 2014. Sie geht sogar soweit zu behaupten, dass sich Russland (ein wohlgemerkt auch aus Sicht der CPGB-ML kapitalistisches Land) sich lediglich gegen ausländische imperialistische Einflüsse behaupten wolle. Die CPGB-ML kauft also Russland die selbstlose Propaganda ab. Dagegen gibt es aber aktuelle und historische Beispiele. Am 1. Mai 2022 wurde der russische Rubel im Gebiet Cherson eingeführt von der durch die russischen Truppen eingesetzte Zivilverwaltung9. Es geht das Gerücht um, dass eine „Volksrepublik Cherson“ ausgerufen werden soll10. Wenn Russland ein Land nicht ganz in seinem Einflussbereich halten kann, so scheint es, dass Russland aus diesem Land De-Facto-Regime versucht abzutrennen, wie es mit Transnistrien in Moldawien oder etwa mit Abchasien und Südossetien in Georgien geschehen ist während des Kriegs im Jahre 2008. Russland erschafft sich also Kleinkolonien, wenn es nicht schafft, das ganze Land zur (Semi-)Kolonie zu haben. Die Niederschlagung der Proteste in Kasachstan im Januar 2022 sind auch unter dem Aspekt zu betrachten, dass Kasachstan von Russland abhängig ist.

Abgesehen von diesen heutigen Tatsachen: Das zaristische Russland galt für Lenin als imperialistisch, obwohl es wirtschaftlich sehr rückständig war. Auch damals gab es welche, die Russland den imperialistischen Charakter absprachen. Solche nannte man damals Menschewiki.

Solche Fehleinschätzungen, wie bei der CPGB-ML, sind leider keine Einzelerscheinungen. Die Imperialismusdebatte der KO brachte dieses Problem erst kürzlich zu Tage. Eine ganze Reihe von Diskussionsbeiträgen schätzt Russland als „nicht-imperialistisch, aber kapitalistisch“ ein. In einer Welt, in der es entweder imperialistische Zentren oder abhängige (Semi-)Kolonien gibt, ist das also eine Art Sonderstatus, der mehr auf emotionaler Bindung an Russland als Land beruht, als auf Fakten. In einem der Beiträge, die Russland nicht als imperialistisch sehen wollen, wird die Gefahr des US-Imperialismus aber richtig eingeschätzt: Trotz eines ökonomisch und militärisch aufstrebenden Chinas und eines militärisch starken Russlands sind die USA weiterhin die Nation, die der gesamten Welt ihre Politik diktieren kann.“11 Das Problem scheint darin zu liegen, dass der Begriff Imperialismus fixiert auf die USA und die NATO-Staaten angewendet wird, wobei auch für diese Länder keine Analyse angefertigt wird, genauso wie im Fall von Russland. Es wird also mit unüberprüften Schemata gearbeitet.

In einem Diskussionsbeitrag zur Debatte der KO schrieb Paul Oswald: „Man könnte auch salopp formulieren, dass unsere Klassiker als tote Lehrsätze verstanden werden. Damit meine ich, dass aus den Klassikern die allgemeinsten begrifflichen Bestimmungen (z.B. Lenins fünf Kriterien zum Imperialismus) herangezogen werden und schablonenhaft auf alles angelegt werden.“12 Diese Kritik trifft genau ins Schwarze bei dem, was gerade von Genossen getan wird. Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“13, sagte schon Paulus. Die „Fünf-Punkte-Schablone“ wurde angelegt, ohne die Gesamtlage zu betrachten. Statt in der Tiefe zu analysieren, tauchten eher Meinungsbeiträge und persönliche Wünsche auf, wie die Lage zu sehen sei. Kurzum: Russland gilt als heilige Kuh. Da spielt offenbar mit rein, dass Russland und Sowjetunion in vielen Köpfen synonym verknüpft sind. Selbst dann, wie man sieht, wenn der russische Präsident Putin in Reden gegen Lenin hetzt. Scheinbar gibt es Genossen, denen am Putinismus mehr liegt als am Leninismus; sie schmeißen ihre eigenen Eier aus dem Nest, um Kuckuckseier in Empfang zu nehmen. Kritik an Russland muss sein, wo sie auf einer realen Einschätzung der Tatsachen beruht.

Ist Russland der „Superschurke“, weil es ein imperialistisches Land ist? Nein. Die drei Supermächte Amerika, China und Russland stehen sich gegenüber. China und Russland bilden einen Block gegen die USA mit den westlichen Ländern im Schlepptau. So wie sich die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg mit den amerikanischen und britischen Imperialisten gegen die deutschen, italienischen und japanischen Imperialisten samt Anhang verbündete, sollten wir das auch tun gegen den US-Imperialismus. Wir dürfen den Klassenkampf innerhalb Chinas und Russlands nicht aus dem Auge verlieren gegen die herrschende Bourgeoisie. Es muss aber klar sein, dass vom US-Imperialismus und dessen NATO-Block die Hauptgefahr weltweit ausgeht.

Thanasis Spanidis lieferte in der KO-Debatte um den Imperialismus eine, aus meiner Sicht, zutreffende Analyse der Lage ab. Er analysierte, dass es sich um einen interimperialistischen Konflikt handelt, bei dem Russland bisher tendenziell in der Defensive gewesen ist. Ich kann ihm aber bei seiner Schlussfolgerung nicht zustimmen: „Die Identifizierung von Kommunisten mit einem imperialistischen Pol bedeutet letztendlich eine Selbstaufgabe. Auch der Standpunkt, der zwar in Worten anerkennt, dass Russland imperialistisch ist, aber sich de facto hinter seine ´legitimen Sicherheitsinteressen´ stellt, die jede Aktion des russischen Staates legitimiert, unterscheidet sich de facto kaum von der Position, die Russland als ´objektiv antiimperialistisch´ oder ´Friedensmacht´ glorifiziert. Kräfte der Linken oder gar Kommunisten, die sich auf die Seite der russischen Aggression stellen, entfernen sich damit vom Standpunkt des proletarischen Internationalismus. In den Teilen der Internationalen Kommunistischen Bewegung, die sich auf den Standpunkt des russischen Imperialismus gestellt haben, kann nun nur eine gründliche Aufarbeitung dieser Fehler und eine ebenso gründliche Selbstkritik einen Ausweg aus der Krise der kommunistischen Bewegung eröffnen.“14 Die bedingungslose Unterstützung Russlands in diesem Konflikt ist tatsächlich Selbstaufgabe. Damit stellen wir uns plump hinter den russischen Imperialismus als Apologeten und erreichen so wenig, wie jene Genossen, die als Brigadiere für Assad starben, indem sie nach Syrien reisten. Wir sollten auf keinen Fall unkritisch gegenüber Putin sein. Wie man ersehen konnte, hat er für Lenin nur Worte der Verachtung übrig. Das können wir uns nicht gefallen lassen. Stattdessen sollten wir klar zwischen Strategie und Taktik unterscheiden.

Wir sollten taktisch auf Russlands Seite stehen aus dem einen Gesichtspunkt: Der NATO-Block wird geschwächt, wenn er sein Marionettenregime in der Ukraine verliert. Wir brauchen nicht an die proklamierten „guten Absichten“ Putins zu glauben. Wenn er so ein Ritter in weißer Rüstung wäre, hätte er innerhalb der letzten acht Jahre dies beweisen können. Nur die Schwächung der NATO ist das progressive Element in diesem Krieg, weil sie uns in unserem Kampf nützlich ist.

Strategisch müssen die Genossen in der Ukraine anfangen zu kämpfen. Daran führt kein Weg vorbei. Dass Russland die Ukraine wieder in ihren Einflussbereich einverleibt ist das geringere Übel. Aber es ist und bleibt ein Übel! Der russische Imperialismus ist nicht „progressiver“ als der amerikanische, wenn es um die innenpolitische Lage der (Semi-)Kolonien geht. Einem ukrainischen Arbeiter kann es egal sein, ob er für das amerikanische oder das russische Kapital schuften muss.

Wir dürfen zu keiner Zeit und unter keinen Umständen außer Acht lassen: Russland ist nicht antiimperialistisch, sondern lediglich ein Rivale des US-Imperialismus.

3 „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (Januar – Juni 1916) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 22, Dietz Verlag, Berlin 1971, S. 270/271.

5 Vgl. Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (Januar – Juni 1916) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 22, Dietz Verlag, Berlin 1971, S. 270.

6 https://newpol.org/issue_post/russian-imperialism-and-its-monopolies/ (Englisch) Eine trotzkistische Analyse. Der Autor liefert aber einige wichtige Daten zu den russischen Monopolen.

8 Vgl. Karl Kautsky „Zwei Schriften zum Umdenken“ In: (Hrsg.) Stefan Bollinger „Imperialismustheorien“, Promedia, Wien 2004, S. 121.

13 2. Korinther 3, 6.

//