Vielerlei im Milieubrei – SINUS-Milieus statt Klassenzugehörigkeit?

Ein jeder Schüler, der in den sozialwissenschaftlichen Fächern nicht auf Durchzug gestellt hat oder sich in einer Ausbildung zu einem pädagogischen Beruf befindet, kennt sie: Die SINUS-Milieus. Diese werden dargestellt, als würden sie die Gesellschaft realistisch abbilden. Ein wesentlicher Kritikpunkt, der aber in der schulischen Lehre nicht aufkommt, ist die Tatsache, dass das SINUS-Institut ein Privatunternehmen ist. Hinter den SINUS-Studien stecken also ganz offenkundig wirtschaftliche Interessen, schließlich ist es ein Marktforschungsinstitut und keine Hochschule. Es handelt sich dabei also dabei in erster Linie um ein Produkt (im heutigen neoliberalen Sinne des Wortes), nicht um fundierte Sozialforschung.

Den einzelnen Milieus werden Eigenschaften zugeschrieben, die entweder einige Klischees bedienen (wie das „Konsum-hedonistische Milieu“) oder wie die einfallslose Zusammenfassung einer mittleren Restmasse wirken (vor allem das „adaptiv-pragmatische Milieu“)1. Aus diesem Grund gibt es nicht selten viele Überschneidungen zwischen Milieus, vor allem bei welchen, die materiell gesehen „Zwillinge“ darstellen – etwa das „Milieu der Performer“ und das „expeditive Milieu“ – die sich bloß in der stereotypisch festgenagelten Mentalität unterscheiden. Das heißt, die Abgrenzbarkeit ist nicht wirklich gegeben bei vergleichbarem Wohlstand. Dieser Mangel an Trennschärfe wird auch kritisiert2. Das SINUS-Institut nennt dies euphemistisch „Unschärferelation der Alltagswirklichkeit“3. Auf den Punkt gebracht heißt das: Das SINUS-Milieumodell ist wenig aussagekräftig. Außerdem ergeben sich offenbar „zufällig“ in diesem Modell zehn verschiedene Milieus, die jeweils um die 10% der Bevölkerung ausmachen. Man wird den Eindruck nicht los, dass man bloß das Volk schematisch in zehn Kategorien gepresst hat, von welchen sich gerne jeweils drei Stück im Dreieck überlappen.

Die Milieus sind also sehr vage. Lediglich das „prekäre Milieu“ hat etwas von Klassencharakter. Und selbst dort ist die Frage, wieso lediglich 9% der Bevölkerung zu diesem gehören soll, wenn die akute Armutsgefährdungsquote in Deutschland bei 14,3% liegt4. Offenbar ist Armut kein hinreichendes Merkmal für Prekarisierung aus Sicht des SINUS-Institutes. Anders ist diese Unterschätzung nicht zu verstehen. Außerdem sind 21,2% entweder von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Diese Zahlen findet man in diesem Milieumodell nicht in diesem Ausmaß widergespiegelt. Das „prekäre Milieu“ machte bereits 2010 9% im Milieumodell von SINUS aus5. Das erweckt erst recht den Eindruck des Schemas. Dieser Eindruck wird durch die fragwürdige Methodik alles andere als entkräftet oder wenigstens gemildert.

Wolfgang Ilg schrieb bereits 2014 einen Artikel mit dem Titel „Sinus-Milieu-Studien: Viel genutzt, kaum hinterfragt“ über die SINUS-Studie „Brücken und Barrieren“, die 2013 an Jugendlichen durchgeführt worden ist, in welchem er sich kritisch mit deren Wissenschaftlichkeit auseinandersetzt. Ein Kritikpunkt von ihm lautet, dass viele Begriffe wechselnd verwendet werden ohne konkrete Definition6. Das ist im wissenschaftlichen Kontext ein No-Go. Ein weiterer, dass die Kriterien für die Zuteilung der Jugendlichen zu den einzelnen Milieus ein „Betriebsgeheimnis“ sei mache die Studie intransparent, entziehe sie der Überprüfbarkeit und der kritischen Auseinandersetzung7. Noch ein weiterer, dass eine Stichprobe von 72 Jugendlichen keine statistisch ausreichende Größe darstellt und man mit dem Kunstbegriff „psychologisch repräsentativ“ dem Leser suggeriere, dass diese Studie repräsentativ sei8. Der Mangel an Repräsentativität zeigt sich beispielsweise darin, dass 56% der Befragten angaben, noch nach der Konfirmandenzeit in der kirchlichen Jugend aktiv zu sein, während es laut Kirchenstatistik lediglich 22% sind9. Ilg stellt außerdem die Frage in den Raum, wie es dem SINUS-Institut bloß gelingen könne, aus rein qualitativen Interviews quantitative Zusammenhangskalen zu entwerfen10. Das ist, als würde man Birnen ernten und daraus Apfelkuchen backen: Input und Output passen nicht zusammen.

Ilg schreibt abschließend: „Auch eine Fata Morgana kann zuweilen sehr anschaulich wirken – hilfreich wird sie dadurch nicht. Wissenschaft erweist sich nicht in attraktiver Darstellung, sondern in belegbarer Methodik. Gemessen an gängigen Kriterien der Sozialwissenschaft bleiben bei einem nüchternen Blick auf die Sinus-Veröffentlichungen zu viele Fragen offen.“11 Die SINUS-Studien sind aus seiner Sicht also eher wegen ihrer Aufmachung, ihrer Verpackung, populär, als wegen ihrer Methodik, also ihrem Inhalt. Hegel sagte sinngemäß: Die Wahrheit ist konkret12. Die SINUS-Milieustudien sind aber überhaupt nicht konkret, sondern verwaschen und absichtlich intransparent. Ihre Wissenschaftlichkeit und Aussagekraft werden ernsthaft angezweifelt. Wozu sind sie dann nütze?

Das „linksorientierte“ Onlinemedium Kommunalinfo Mannheim kritisiert in einem Beitrag vom 10. August 2023 die SINUS-Milieus zwar stark, vor allem wegen deren übermäßigen Fokus auf den subjektiven Faktor, statt der objektiven Lebenslage, schreibt aber auch: Milieuanalysen haben Schicht- oder Klassenanalysen nicht abgelöst oder überflüssig gemacht, sondern im besten Fall ergänzt, weil sie andere Aspekte der Gesellschaft in den Blick nehmen.“13 Sie sehen also überhaupt einen potenziellen Nutzen in diesen Milieustudien. Worin diese „anderen Aspekte der Gesellschaft“ konkret bestehen sollen, bleibt offen. Es kann dabei eigentlich nur auf subjektive und individuelle Aspekte sich handeln, da das SINUS-Institut qualitativ statt quantitativ arbeitet. Diese kann man auch durch offen gestaltete Fragebögen versuchen zu erfassen, außerhalb des Kontextes einer Milieustudie.

Was aber auch für die Beliebtheit der SINUS-Milieus im bürgerlichen Bildungssystem spricht, ist folgender Grund: Milieus sind in der bürgerlichen Soziologie deshalb so beliebt, weil sie eben so schwammig sind. Die bürgerliche Soziologie ist nicht daran interessiert, die grundlegenden Verhältnisse der Gesellschaft offenzulegen, denn dies würde den Interessen ihrer kapitalistischen Geldgeber widersprechen. Stattdessen geht es ihnen darum, die Gesellschaft so weit wie möglich in Kategorien zu unterteilen, mögen sie noch so subjektivistisch konstruiert sein. Klare Tatsachen stören eher.

Dafür ein konkretes Beispiel: Rainer Hank leugnete am 22. April 2024 in der FAZ, dass Kinderarmut eine reale Grundlage hätte und behauptete, dass man die statistische Definition so manipulieren würde, sodass sich daran nichts ändern würde. Er versteigt sich sogar zu dieser zynischen Aussage: „Man kann diese Definitionen relativer Armut skandalisieren. Das finde ich wenig originell, zumal niemand ernsthaft behauptet, ein Obdachloser in einer Frankfurter U-Bahn-Unterführung sei materiell genauso übel dran wie ein Hungernder in Zentralafrika.“14 Einerseits sind beide Fälle ein Beispiel für absolute Armut. Andererseits zeigt diese Aussage die bürgerliche Weltanschauung des Autors in voller Blöße. Das ist aber nicht das Primäre an dieser Stelle, sondern die Tatsache, dass die bürgerliche Sichtweise auf soziologische Probleme vor allem eine Streiterei um Kategorien und Definitionen ist, statt konkret greifbare, materiell realexistierende Fakten zur Grundlage zu legen. Man könnte andererseits sich die Kinderarmut auch so kleinrechnen wollen, so wie es spätestens seit Hartz IV in den Arbeitslosenstatistiken geschehen ist. Hank fordert nicht einmal eine genaue Erfassung der tatsächlichen Lage, ihm ist also eine Lösung des bestehenden Problems gleichgültig.

Was hat das mit den Milieus zu tun? Folgendes: Es ist bürgerlichen Ideologen (als nichts anderes kann man die Mitarbeiter des SINUS-Instituts bezeichnen, ihre Milieus sind schließlich mehr subjektiv als objektiv) egal, wie viel Wahrheitsgehalt eine Studie, eine Theorie oder eine Statistik hat, solange sie ihren Zweck erfüllt: Das kapitalistische System zu stabilisieren. Rainer Hank regt sich bloß darüber auf, dass die offiziellen Zahlen der Regierung nicht gerade für das derzeitige System sprechen. Also gehört die Statistik ignoriert. Im Fall der SINUS-Milieus geht es darum, die Klassenzusammensetzung zu verschleiern. Es gibt eine Anekdote über das antike Rom: Ein Senator schlug vor, die Sklaven zu markieren, damit man sie besser von den freien Bürgern unterscheiden kann. Ein anderer erwiderte ihm aber: „Wenn die wüssten, wie viele sie sind, gäbe es einen Aufstand!“ Damit war der Vorschlag vom Tisch. Die SINUS-Milieus sind in fast gleichgroße Milieus aufgeteilt, die sich an vielen Stellen überschneiden und oft mehrere sich bloß durch subjektive Faktoren unterscheiden anstatt durch Einkommensunterschiede. In diesem Falle wird die Geisteshaltung praktisch höher gewichtet als die ökonomische Lage. Marx sagte: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“15 Das SINUS-Institut stellt dies zur Hälfte auf den Kopf, erkennt es zur anderen Hälfte an. Dadurch ergeben die Milieus ein Zerrbild ohne Aussagekraft: Für die Abbildung der Klassenlage ist es zu subjektiv, für die Abbildung des weltanschaulichen Stimmungsbildes ist es noch zu objektiv. Das Problem dabei ist nicht einmal, dass gewisse Ansichten und Haltungen über Klassengrenzen hinweg existieren, sondern, dass diese nicht unbedingt ihre Interessen widerspiegeln. Es gibt Menschen aus der Arbeiterklasse, die neoliberale Einstellungen haben und gegenüber dem bürgerlichen Staat unhinterfragt loyal sind – entgegen ihrer ureigensten Interessen. Das Problem ist eher, dass diese subjektive Einstellung an ihrer objektiven Lage nichts ändert. Milieuwechsel seien möglich. Nimmt man diese also zur Grundlage eines Überblicks auf die Gesellschaft, so bekommt man nicht mehr als eine instabile Momentaufnahme eines ohnehin schon vagen Modells. Das ist beim marxistischen Klassenmodell nicht der Fall.

Die Klassenzusammensetzung kann sich natürlich auch ändern, aber da es de facto unmöglich ist von der Arbeiterklasse zur Großbourgeoisie beispielsweise aufzusteigen, ergibt sich dadurch ein deutlich stabileres und valideres Bild der Gesellschaft: Ein Abbild, das sich auf das Wesentliche konzentriert, nämlich die Beziehung zu den Produktionsmitteln. Daraus leiten sich objektive Interessen genauso ab wie die ungefähre soziale Lage. Der subjektive Faktor, der im Milieumodell mit der materiellen Lage als gleichwertig angesehen wird, wird bei der Klassenzusammensetzung nicht unmittelbar berücksichtigt, sondern fällt unter die Kategorie (Klassen-)Bewusstsein. Das führt dazu, dass man in den Klassen klar definierte und abgegrenzte soziologische Kategorien hat statt einem Brei aus sich mehrfach überschneidenden Milieus.

Lasst uns die bürgerliche Sicht auf die kapitalistische Gesellschaft verwerfen und uns auf das Wesentliche konzentrieren: Die materielle Lage der Menschen und ihre Klassenzugehörigkeit.

7 Ebenda, PDF-Seite 6.

8 Vgl. Ebenda.

9 Vgl. Ebenda, PDF-Seite 7.

10 Vgl. Ebenda, PDF-Seite 10.

11 Ebenda, PDF-Seite 17.

15 Karl Marx „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1859) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 13, Dietz Verlag, Berlin 1961, S. 9.

//