Vom Wesen des Menschen

Eine der ältesten philosophischen Fragen: Wie ist das Wesen des Menschen? Besonders religiöse Kreise behalten sich darauf eine definitive Antwort vor. Evangelikale Kreise behaupten: „Die Bibel lehrt, dass der Mensch im Grunde böse ist.“1 Jeremia 17, 9 wird dafür als „Beweis“ angeführt: „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?“ Dieses Bibelzitat ist aber nicht eindeutig. Genauso wenig ist die Bibel insgesamt in dieser Frage eindeutig, im Gegensatz zum Islam. In Sure 14, 34 steht: „Der Mensch ist wirklich frevelhaft und undankbar.“2 Sure 22, 66 besagt: „Der Mensch ist wirklich undankbar.“3 Hamed Abdel-Samad erkannte, dass es ein Widerspruch ist, dass Gott seine Schöpfung mit Unzulänglichkeiten geschaffen habe und dieser anschließend die Schuld zuschiebt4. Das Christentum besitzt diesen Widerspruch nicht. Dafür wird aber auf das Wesen des Menschen als solches wenig eingegangen. Natürlich gibt es dort auch „böses“ Verhalten und für die Endzeit wird auch solches verkündet, nämlich als sündhaftes Verhalten5. Jesus sprach, dass die Wahrheit frei macht und Sünden einen knechten6. Auch Paulus betonte die Freiwilligkeit des Glaubens7. Zum Wesen des Menschen liefert die Bibel also keine eindeutige Antwort. Der Mensch wird als „gut“ oder „böse“ betrachtet je nach dem, ob er getreu dem Glauben oder sündig lebt. Das liegt daran, dass die Bibel eben kein Buch über Philosophie ist, sondern eine heilige Schrift mit überwiegend geschichtsschreibendem Charakter.

Die Schriften des Konfuzianismus sind über das Wesen des Menschen deutlich aufschlussreicher.

Menzius zufolge sei das Wesen des Menschen gut. Er sagte: „Die natürlichen Triebe tragen den Keim zum Guten in sich; das ist damit gemeint, wenn die Natur gut genannt wird. Wenn einer Böses tut, so liegt der Fehler nicht in seiner Veranlagung.“8 Entsprechend blickte er auch auf die materiellen Verhältnisse: „In fetten Jahren sind die jungen Leute meistens gutartig, in mageren Jahren sind die jungen Leute meistens roh. Nicht als ob der Himmel ihnen verschiedene Anlagen gegeben hätte; die Verhältnisse sind schuld daran, durch die ihr Herz verstrickt wird.“9 Menzius sah den Menschen als prinzipiell gut an, erkannte aber auch, dass unter schlechten materiellen Verhältnissen die Menschen entsprechend handeln aus ihrer Not heraus. Die Gutheit wird also als Grundhaltung angenommen, nicht als Haltung in jeder möglichen Situation.

Xünzi zufolge sei das Wesen des Menschen schlecht. Die Natur des Menschen ist schlecht. Ihre Gutheit das Ergebnis bewusster Anstrengungen.“10, sagte er. Die Natur des Menschen ist bei ihm aber nicht unwandelbar. Ganz im Gegenteil, seiner Einschätzung legen dialektische Zusammenhänge zugrunde. „In jedem Fall, in welchem Menschen danach streben, gut zu werden, ist es so, dass ihre Natur schlecht ist. Die Person, die wenig hat, strebt danach viel zu haben. Die Person, die wenig Erfahrung hat, strebt nach Erweiterung. Die hässliche Person strebt nach Schönheit. Die arme Person strebt nach Reichtum. Die niedere Person strebt nach höherer Stellung. Das, was man nicht in sich selbst hat, findet man sicherlich außerhalb. Deshalb strebt einer, der reich ist, nicht nach Wohlstand. Wenn einer in hoher Stellung ist, strebt er nicht nach Macht. Wenn einer etwas in sich selbst hat, dann sucht er nicht außerhalb danach. Wenn man es so betrachtet, streben die Menschen danach, gut zu werden, weil ihre Natur schlecht ist.“11, sagte Xünzi. Xünzis These von der Schlechtheit des Menschen unterscheidet sich im Ergebnis nicht so sehr von Menzius. Während nach Menzius der Mensch aus angeborener Gutheit heraus gut handelt, so erkennt nach Xünzi der Mensch seine eigene Schlechtheit und sieht das Bedürfnis, sich selbst zu verbessern. Ist der Mensch gut, so ist er eben bereits gut; ist der Mensch schlecht, so wird er sich zum Guten verbessern. Für das praktische Ergebnis ist es also irrelevant, ob man von Menzius oder Xünzi ausgeht. Einzig unterscheidet sich der Weg dorthin.

Aus Sicht von Yang Xiong ist das Wesen des Menschen entweder gut oder schlecht, je nach dem, welche Eigenschaft dieser kultiviert. Yang Xiong sagte: Des Menschen Wesen ist eine Mischung aus Gut und Böse. Wer das Gute in sich vervollkommnet, wird ein guter Mensch, wer das Böse in sich vervollkommnet, ein böser Mensch sein.“12 Die biblische Sichtweise auf das Wesen des Menschen geht im Kerngedanken damit zusammen. Yang Xiong trifft keine definitive Antwort und lässt beide Optionen offen, so wie die Bibel die Optionen offenhält, gottgerecht oder sündig zu leben. Bei den Evangelikalen werden Sünder mit Verweis auf Johannes 3, 6-713 mit Hunden verglichen, die wiedergeboren werden müssten, um Menschen zu werden: „Man kann einen Hund füttern, bürsten und erziehen, doch man kann ihn dadurch nicht in ein menschliches Wesen verwandeln. Um ein Mensch zu werden, müsste er noch einmal geboren werden.“14 Menschen mit Tieren zu vergleichen stammt wohl aus dem misanthropischen Menschenbild der Evangelikalen, laut deren Moralverständnis der Mensch per se böse sei.

Damit hängt auch die Frage zusammen, ob der Mensch überhaupt der Religion bedürfe, um moralisch handeln zu können. Die Evangelikalen bejahen dies15. Kant verneinte das und schuf aus diesem Grunde den kategorischen Imperativ16. Selbst wenn alle Menschen Atheisten wären und dem Wesen nach „böse“ wären, so würden sie dennoch nicht übereinander herfallen. Dafür gibt es die sogenannte „Goldene Regel“. Sie existiert in praktisch allen Weltreligionen und auch in der konfuzianistischen Philosophie, die an sich nicht religiös ist17. Konfuzius sprach: Was du selbst nicht wünschest, das tue nicht den Menschen an.“18 Um das eigene Leben nutzen zu können, müssen die Menschen im Kollektiv sich auf Regeln einigen, die für alle gelten und jedem zu Nutze kommen. Der Mensch hat einen Selbsterhaltungstrieb und dieser übersetzt sich wiederum in Kollektivinteressen; die Kollektivinteressen wiederum wirken auf das Individuum zurück und messen diesem seine Möglichkeiten im gesellschaftlichen Rahmen zu.

Die Evangelikalen behaupten: „Im Gegensatz dazu hat der Marxismus gelehrt, dass der Mensch nicht von Grund auf böse ist.“19 Das stimmt. Aber der Marxismus betrachtet das Wesen des Menschen auch nicht als „gut“, sondern betrachtet den Menschen von Interessen getrieben. Eine marxistische Antwort würde ähnlich ausfallen, wie die des Konfuzianers Yang Xiong. Einen Menschen kann man letztendlich nur seinen materiellen Umständen entsprechend beurteilen. Daraus entspringt die Frage, wie er im Rahmen seiner Möglichkeiten sich selbst kultiviert hat. Zum Beispiel nützt es nichts einem Armen vorzuhalten, er sei „böse“, weil er einen Diebstahl begangen hat. Genauso wenig kann man einen großkapitalistischen Mäzen als „gut“ ansehen, wenn er eine Großspende getätigt hat, denn immerhin entstammt sein Gesamtvermögen aus der Ausbeutung von Lohnarbeitern. Wenn man so will, handelt es sich dabei um die Verschenkung von Diebesgut in großem Stil. Die Evangelikalen gehen von einer Art „absoluten Moral“ aus, die so nicht existiert und nicht existieren kann.

Im Grunde ist die Frage nach dem Wesen des Menschen irrelevant, weil sie eine Abstraktion fern von den realen Lebensumständen ist. Sie verleugnet ja gerade das, was das „eigentliche Wesen des Menschen“ ausmacht – nämlich seine Anpassungsfähigkeit an die materiellen und gesellschaftlichen Verhältnisse.

1 David Gooding/John Lennox „Opium fürs Volk“, Christliche Literatur-Verbreitung, Bielefeld 2016, S. 36.

2 Sure 14, 34 In: (Übs.:) Rudi Paret „Der Koran“, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1983, S. 181.

3 Ebenda, S. 237.

4 Vgl. Hamed Abdel-Samad „Der Koran – Botschaft der Liebe/Botschaft des Hasses“, Droemer Verlag, München 2018, S. 29/30.

5 Siehe: 2. Timotheus 3, 1 ff.

6 Vgl. Johannes 8, 31 ff.

7 Siehe: Philemon 14.

8 Mengzi Buch VI A, 6 In: Mong Dsi „Die Lehrgespräche des Meisters Meng Ko“, Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf/Köln 1982, S. 163.

9 Mengzi Buch VI A, 7 In: Ebenda, S. 164.

10 Xunzi, Kapitel 23 In: „Xunzi – The Complete Text“, Princeton University Press, Princeton/Oxford 2014, S. 248, Englisch.

11 Ebenda, S. 251, Englisch.

12 „Yang Hsjung“ In: (Hrsg.) Ernst Schwarz „So sprach der Meister – Altchinesische Lebensweisheiten“, Bechtermünz Verlag, Augsburg 1999, S. 259.

13 Diese Bibelstelle besagt: „Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden.“

14 David Gooding/John Lennox „Opium fürs Volk“, Christliche Literatur-Verbreitung, Bielefeld 2016, S. 38.

15 Siehe: Ebenda, S. 30.

16 Siehe: Immanuel Kant „Der kategorische Imperativ“ In: „Ich denke, also bin ich – Grundtexte der Philosophie“, Verlag C. H. Beck, München 2006, S. 176/177.

17 Siehe: „Li Gi – Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche“, Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf/Köln 1981, S. 136. In diesem konfuzianistischen Klassiker steht geschrieben: „Der Edle gibt keinen ungeordneten Reden Nahrung, Göttermythen erwähnt er nicht.“

18 Lunyu XII, 2 In: Konfuzius „Gespräche“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2007, S. 107.

19 David Gooding/John Lennox „Opium fürs Volk“, Christliche Literatur-Verbreitung, Bielefeld 2016, S. 37.

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