Weiße Garde unter schwarzer Fahne – Über Machnos Anschauungen

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Manche sind der Auffassung, der Marxismus und der Anarchismus hätten ein und dieselben Prinzipien, es gäbe zwischen ihnen lediglich taktische Meinungsverschiedenheiten, so daß es ihrer Meinung nach ganz unmöglich sei, diese beiden Strömungen einander gegenüberzustellen. Dies ist jedoch ein großer Irrtum. Wir sind der Auffassung, daß die Anarchisten richtige Feinde des Marxismus sind. Wir erkennen also auch an, daß man gegen richtige Feinde einen richtigen Kampf führen muß.“1 – J. W. Stalin

Nestor Machno – dieser Name ist den meisten Genossen nur im Kontext der Niederschlagung der anarchistischen Konterrevolutionäre durch die Bolschewiki in der Ukraine bekannt. Als Machno entkam und die Niederschlagung der Anarchisten länger dauerte als erwartet, schrieb Lenin am 6. Februar 1921 an den Revolutionären Kriegsrat: Unser Militärkommando hat schändlich versagt, indem es Machno hat entkommen lassen (trotz des gewaltigen Übergewichts der Kräfte und trotz strenger Befehle, ihn zu ergreifen), und jetzt versagt es noch schändlicher, weil es nicht versteht, einer Handvoll Banditen den Garaus zu machen.“2 Offensichtlicherweise sah Lenin in den Anarchisten bloß „Banditen“. Anarchisten machten später eine Dolchstoßlegende aus der Niederschlagung der Machnotschina in der Ukraine, als hätten die Bolschewiki plötzlich und grundlos das De-Facto-Regime der Machno-Anarchisten zerschlagen. Der reaktionären, antisozialistischen Anschauungen Machnos sind dabei kein Thema. Diesem Thema sollte aber ein wenig Aufmerksamkeit gewidmet werden, um zu verstehen, dass Machno keineswegs ein Revolutionär gewesen ist, wie Anarchisten ihn heute verklären.

Machno hielt seine grundlegenden ideologischen Anschauungen in einer Broschüre unter dem Titel „Das ABC des revolutionären Anarchisten“3 fest.

Machno definiert in diesem Text den Anarchismus so: Der Anarchismus ist freies Leben und unabhängiges Schaffen des Menschen. Der Anarchismus ist nicht die Lehre einer Theorie und auf Grund dieser Theorie künstlich geschaffener Programme, die den Versuch machen, das Leben des Menschen völlig in sich zu begreifen. Der Anarchismus ist eine Lehre vom Leben in allen ihren gesunden Erscheinungsformen, des realen Lebens,das über alle künstlichen Normen hinauswächst, eines Lebens welches sich in letztere nicht hineinpressen läßt.“ Diese Definition ist so nichtssagend, dass man den Begriff Anarchismus beinahe in der gesamten Definition durch jede andere Ideologie ersetzen könnte. Ein „freies Leben“ bzw. ein „Leben in Freiheit“ verspricht einem nahezu jede politische Ideologie – aber darunter versteht jeder etwas anderes. Das „unabhängige Schaffen des Menschen“ ist die einzige Stelle, die auf Individualismus hinweist, und somit das ideologische Spektrum ein wenig einengt. Dennoch, auch die Liberalen oder Libertären machen derartige Versprechungen den Massen gegenüber. Entsprechend bürgerlich ist auch der Anarchismus. Lenin merkte zum anarchistischen Individualismus an: „Anarchismus ist umgestülpter bürgerlicher Individualismus. Der Individualismus als Grundlage der gesamten Weltanschauung des Anarchismus.“4 Damit behält Lenin recht, wie sich noch zeigen wird.

Aus diesem Individualismus des Anarchismus leitet Machno den „Kommunismus“ eigener Prägung her: „Die Grundlage des Anarchismus beruht auf der freien Verantwortung des Menschen, eine Verantwortung, die in allen Stücken und zu allen Zeiten gleich ist, – d.h. eine Verantwortung, die durch sich selber die Sicherstellung der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit immer in gleichem Maße für alle und für jeden Menschen bedeutet. Hier wird der Kommunismus geboren. Der Anarchismus wird durch die Natur des Menschen in das menschliche Leben hereingetragen. Der Kommunismus durch die logische Weiterentwicklung des Anarchismus.“ Argumente mit der „Natur des Menschen“ sind schwach, weil die Natur des Menschen primär in seiner Anpassungsfähigkeit liegt. Daraus folgt aber, bei konsequenter Durchdenkung, ein argumentativer Zirkelschluss. Des Menschen Natur ist anarchisch: sie widersetzt sich allem, was sie beengt.“, behauptete Machno ohne einen Beweis. Dieses „Widersetzen gegen Beengung“ ist ein Einstehen für die eigenen Interessen. Das ist nicht an sich anarchistisch. Noch unrichtiger wird es, wenn Machno ableitet, dass das ukrainische Volk „instinktiv die lebendigen Forderungen der anarchistischen Ideen“ gefühlt hätte. Der erwähnte Zirkelschluss zieht sich durch einen ganzen Abschnitt Machnos. Die Auslassung einer tiefergehenden Besprechung sei entsprechend zu verzeihen – der ganze Abschnitt ist durchzogen von diesem einen Grundfehler.

Machnos „anarchistischer Kommunismus“ hat mit dem wissenschaftlichen Kommunismus des Marxismus nur das Wort gemein. Allein wegen der Benutzung des Wortes „Kommunismus“ denken allzu viele, dass es sich dabei um dasselbe handeln würde.

Machno führt in einer Ahnenreihe des Anarchismus unter anderem Proudhon, Kropotkin und Bakunin an. Von Letzterem hat er offenbar den Terminus „wissenschaftlicher Anarchismus“ aufgeschnappt, den Bakunin wiederum von Marx´ und Engels´ wissenschaftlichem Sozialismus raubkopiert hat, ohne eine eigene fundierte Theorie aufzustellen. Entsprechend ist auch Machno nicht in der Lage, den „wissenschaftlichen Anarchismus“ mit mehr zu füllen als Phrasen: „Das wissenschaftliche Dogma des Anarchismus ist das Bestreben, seine Natürlichkeit, welche der Mensch in seinem eigenen Innern, zu allen Zeiten und in allen seinen schöpferischen Errungenschaften nicht aufgibt.“ Offenbar sprach Machno dem Anarchismus das ideologische Erstgeburtsrecht zu, was er nicht hatte, indem er schrieb: „Allerdings wurden zugleich mit der Entwicklung des Anarchismus auch neue Ideen erschaffen: Der Liberalismus und der sogenannte ´wissenschaftliche´ Staatssozialismus, dazu auch der bolschewistische Kommunismus.“ Machno dreht die Geschichte auf den Kopf. Nicht der Marxismus wurde als Reaktion auf den Anarchismus, sondern umgekehrt, der Anarchismus bildete sich unter Bakunin zur Ideologie in Reaktion auf den Marxismus. Abgesehen davon ist der Liberalismus älter als Marxismus und Anarchismus, denn er entstammt im Ursprung einer früheren Epoche. John Locke gilt als dessen ideologischer Begründer.

Da Machno Anarchist war, wollte er in Worten auch keinen Staat, keine Regierung: Die sozialpolitische Physiognomie des Anarchismus ist eine freie, regierungslose Gesellschaft Freiheit, Gleichheit und Solidarität im Leben Ihrer Mitglieder.“ Problem dabei ist nur, dass er mit seinem Aufstand in der Ukraine faktisch einen Staat geschaffen hat, den die Anarchisten aber nicht als solchen ansehen wollten; da sie den Staat nicht als solchen anerkannten, wurden auch keine Maßnahmen zu dessen Demokratisierung getroffen; und da keine Maßnahmen zu dessen Demokratisierung getroffen worden sind, war dieser Anarcho-Staat faktisch eine Diktatur Machnos. Lenin monierte am Anarchismus: „Keine Majorität. Verneinung der vereinigenden und organisierenden Kraft der Staatsmacht.“5 Mit „keine Majorität“ meint Lenin, dass das demokratische Prinzip der Mehrheitsentscheidung nicht existiert. Der Anarchismus treibt also die vorgebliche Freiheit so auf die Spitze, sodass sie sich dialektisch konsequent in ihr Gegenteil verkehrt und ein Einzelner sogar die Freiheit hat, über andere zu herrschen.

Machno behauptete: Der anarchistische Kommunismus gründet sich auf dem allseitig entwickelten, schöpferisch unabhängigen und absolut freien Leben des Menschen. Daher sind seine Mitglieder freie und in ihrem Leben fröhliche Menschen. Die Arbeit, brüderliche, gegenseitige Beziehungen zueinander, Liebe zum Leben und eine Leidenschaft für das Schaffen, für Schönheit und Freiheit in diesem Schaffen, leiten das Leben und das Wirken solcher Menschen. Daher brauchen sie keine Gefängnisse, keine Henker, keine Spione, keine Provokateure (die von der Bourgeoisie ins Leben gerufen wurden, während die Staatssozialisten sie übernahmen, sie weitererziehen und weiterentwickeln).“ Machno tat so, als würde sich die anarchistische Ordnung von selbst halten und bedürfe keiner Straforgane zur Verteidigung gegen einen Umsturz. Wie zu ersehen ist, versucht er wieder einmal, im Kern, seine Herleitung aus seiner Eigeninterpretation des Wesen des Menschen dafür als Grundlage ins Feld zu führen. Hier zeigt sich nicht nur die Ablehnung staatlicher Organisation durch Machno, sondern auch sein Antisozialismus.

Machno war ein erklärter Feind der Sowjetunion und verbreitete über sie Falschinformationen, sei dies nun aus einem dilettantischen Verständnis heraus oder aus Absicht erlogen. Er behauptete über die Klassenlage in der Sowjetunion: Die Bourgeoisie hat übrigens in den letzten Jahren auf die Erfahrungen des bolschewistischen Kommunismus blickend, recht wohl verstanden, daß diese eigentümliche Chimäre eines wissenschaftlich-staatlichen Sozialismus niemals ohne ihre Mittel, ja sogar ohne sie selber auskommen kann.“ Darauf passt Lenins Kritik, dass die Anarchisten die Abschaffung der Ausbeutung „sofort“ fordern und dadurch nicht die notwendigen Schritte einleiten, um die kapitalistische Gesellschaft in eine sozialistische zu transformieren6. Es ist klar, dass die NÖP-Phase (die in den späteren sozialistischen Staaten als Volksdemokratie bezeichnet worden ist) mit den Muttermalen der alten Gesellschaft „befleckt“ gewesen ist, entsprechend noch Bourgeoisie existierte. Aber diese Feststellung an sich ist schon ungenau. Die Großbourgeoisie war enteignet, es blieb nur noch die Klein- und die Mittelbourgeoisie. Machno verkürzte die Realität auf einen vagen Umstand, statt eine Analyse der Klassensituation vorzunehmen. Die Enteignung des Großkapitals und die bereits unter Lenin begonnene Kollektivierung der Kleinbetriebe ging gegen die ökonomischen Wurzeln der Mittelbourgeoisie vor. Wie sich noch zeigen sollte, brauchte die Sowjetunion eben nicht die Bourgeoisie.

Machno sah, wie man an seiner Falschbehauptung über die Klassenlage in der Sowjetunion bereits erahnen kann, im Sozialismus genauso einen Feind, wie in der Bourgeoisie:

Die Macht der Sozialisten und Staatskommunisten ist nicht minder gemein als die Macht der Bourgeoisie.“

Der Liberalismus, der Sozialismus und der staatliche Kommunismus sind drei Brüder, die auf verschiedenen Wegen – jeder auf seine Weise – danach streben, zur Macht über den Menschen zu gelangen, – zu einer Macht, welche den Menschen daran hindert, der absoluten Vollendung entgegenzuschreiten, welche sich in der Freiheit und Unabhängigkeit entwickelt und ein gesundes und wirklich lebensfähige Element in dem Gesellschaftsideal des ganzen Menschengeschlechts bildet.“

Gleichviel, ob die Regierungsgewalt eine bourgeoise, sozialistische, kommunistische, bolschewistische, eine von Arbeitern oder von Bauern geführte sein mag: sie ist gemein für ein gesundes und glückliches»persönliches und gesellschaftliches Leben des Menschen. Die Natur jeder Gewalt ist stets ein und dieselbe: Vernichtung der Freiheit des Menschen, geistig soll er in einen Sklaven verwandelt werden, physisch in einen Lakaien der Machthaber selber und aller ihrer im Hinblick auf ein gesundes Menschenleben finsteren Werke.“

Machno bietet keine reale Lösung für die Frage nach der Verwirklichung einer gerechteren Gesellschaft. Er unterstellt selbst der Diktatur des Proletariats die schlimmsten Absichten, einfach aus dem Grund, weil sie offen zugibt, ein Arbeiterstaat zu sein. Pauschal verurteilt Machno jede Art von Staatsmacht mit diesen Worten: „Eine Macht ohne Hörner gibt es nicht. Jede Macht trägt Hörner, und sie stößt sie ab an jedem Menschen, der einem freien und gerechten Leben zustrebt.“ Dem stellt er seinen Anarchismus gegenüber: „Die Freiheit eines jeden einzelnen Menschen gebiert eine freie, in ihrer dezentralisierten Ganzheit vollendete, im allgemeinen Ziel zusammengefaßte, regierungslose Gesellschaft. Das ist der anarchistische Kommunismus!“ Nicht nur ist es ein Widerspruch, zu dezentralisieren und dennoch auf ein gemeinsames Ziel zuzustreben – das geht eben nur durch Koordinierung, welche wiederum ein gewisses Maß an Zentralisierung benötigt – sondern auch seine Heuchelei, die die Machnotschina nicht einmal als einen Staat mit entsprechender Autorität anerkennt. Machno hätte niemals einen Aufstand in der Ukraine machen können, wenn er keine Truppen unter seinem Kommando besessen hätte. Engels schrieb schon nach der Niederschlagung der Pariser Kommune gegen die frühen Anarchisten den Aufsatz „Von der Autorität“. Der ganze Aufsatz ist gegen den Anarchismus gerichtet. Ein Satz jedoch kann man Machno, der stets die „anarchistische Revolution“ beschwor, besonders entgegenhalten:

Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt; und die siegreiche Partei muß, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen.“7

Machno redet in keinster Weise darüber, wie er es geschafft hat, einen Teil der Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Der Grund ist einfach: Er müsste sonst zugeben, dass er als Regent die politische Autorität innehielt – also offen anerkennen, dass Worte und Taten bei ihm auseinandergehen, wie die Pupillen eines Schielenden. Daran kann man ersehen, dass man anarchistische Theorie eher als anarchistisches Wunschdenken bezeichnen kann – die Realität ist eine völlig andere. Der gravierende Unterschied zum Marxismus dabei ist, dass die sozialistischen Staaten sich, trotz der Fehler und dem temporären Scheitern an der revisionistischen Entartung, sich in ihrer Praxis durchaus an der marxistischen Theorie messen lassen können. Theorie und Praxis sind natürlich auch im Marxismus nicht immer im völligen Einklang – sie sind aber keine zwei voneinander völlig verschiedene Dinge, wie beim Anarchismus, wo jegliche Korrelation zwischen beiden fehlt.

Die Bourgeoisie könnte durch Machnos anarchistischen Ideen als Klasse gar nicht beseitigt werden, denn er setzt nicht auf Klasseninteressen als Grundlage seiner Ideologie, sondern verkündet eine „allgemeinmenschliche Harmonie“ in der anarchistischen Gesellschaft. In einer Klassengesellschaft von „allgemeinmenschlichen“ Gesellschaftszielsetzungen zu reden ist in sich bürgerlich. Kurzum: Der Anarchismus ist eben eine bürgerliche Ideologie. Lenin schrieb:

Die Weltanschauung der Anarchisten ist eine umgestülpte bürgerliche Weltanschauung. Ihre individualistischen Theorien und ihr individualistisches Ideal sind das gerade Gegenteil vom Sozialismus. Ihre Ansichten drücken nicht die Zukunft der bürgerlichen Gesellschaftsordnung aus, die unaufhaltsam zur Vergesellschaftung der Arbeit führt, sondern die Gegenwart, ja sogar die Vergangenheit dieser Ordnung, die Herrschaft des blinden Zufalls über den vereinzelten, alleinstehenden Kleinproduzenten.“8

Da Machno gegen eine Planwirtschaft und gegen das Volkseigentum als Wirtschaftsgrundlage war, war faktisch nur der Sozialismus sein Feind. Der Anarchismus vertritt, auf den Punkt gebracht, ein idealisiertes Bild des Frühkapitalismus mit der kleinen Warenproduktion als Wirtschaftsgrundlage.

Machno zufolge sollten diese Produktionsmittel von den Anarchisten in Besitz genommen werden: Land, Fabriken, Werke, Bergwerke, Kohlenbergwerke, das Eisenbahnwesen, Fluß- und Seeschiffahrt, Wälder und andere Reichtümer.“ Was Machno nicht erklärt, ist, wie diese verwaltet werden sollten. Er spricht lediglich von „freien Gesellschaftsverbänden“ in Form von „Produzenten-Konsumenten-Kooperativen“. Entweder bleiben diese privat oder sie gehen in genossenschaftliches Eigentum über. Eines ist aber dadurch klar: Sie gehen nicht in Volkseigentum über und unterliegen erst recht nicht einem Wirtschaftsplan. Machno sprach an anderer Stelle von „bolschewistischen Marodeuren mit ihren Monopolen“, wodurch diese Schlussfolgerung ableitbar ist. Der Markt besteht also weiterhin, auch wenn Machno ihn nicht explizit erwähnt.

Der Angriff auf die Religion von Machno erfolgte nicht von einer wissenschaftlichen Perspektive, nämlich einer historisch-kritischen Auseinandersetzung in Verbindung mit der Auslotung der naturwissenschaftlichen Möglichkeiten; sie erfolgte auf Grundlage der Ablehnung von „Sittlichkeit“ und „Moral“. Der Angriff auf die Religion ist also rein idealistisch. Dahinter steckt das Bakuninsche Axiom, dass, wenn Gott existiere, der Mensch nicht frei sein könne. Das ist aber keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Religion, sondern fällt, genauso wie die anarchistische Theorie an sich, in das Bereich des idealistischen Wunschdenkens. Angenommen, es gäbe tatsächlich den Beweis dafür, dass Gott existieren würde: Die Anarchisten würden ihn trotzdem ablehnen, aus rein idealistischen Gründen.

Wir Marxisten werden allzu oft mit Anarchisten in einen Topf geworfen. Solange es um bloße Spekulationen ohne praktische Grundlage geht, scheint das zu gelten, was im „Hirten des Hermas“ geschrieben steht: Wie nämlich im Winter die Bäume ihr Laub abwerfen und einander gleichen, so dass man nicht sieht, welche dürr sind und welche Leben haben, so unterscheiden sich in dieser Welt die Gerechten nicht von den Sündern, sondern alle gleichen einander.“9 Solange die Arbeiterbewegung am Boden liegt erscheint es oberflächlich, als würde jede linke Ideologie an das Ziel einer fortschrittlicheren Gesellschaft führen. Betrachtet man jedoch die praktische Umsetzung, die sich auch wiederum in entsprechender ideologischer Reflexion widerspiegelt, so kann man durchaus das unterscheiden, was gut und was schlecht ist für die Interessen der Werktätigen. Selbst manche Genossen versuchen die offensichtlichen antagonistischen Widersprüche zwischen Marxismus und Anarchismus auszublenden. Diese sollten sich wie König Salomon von Gott wünschen, das Volk verstehen zu können sowie Gut und Böse unterscheiden zu können10. Vielleicht käme solchen Genossen, die eine „linke Einheit“ herbeisehnen dann die Erleuchtung.

Es gibt viele Arten von Anarchisten, sogar genug von jenen, die sich als solche bezeichnen und nicht einmal ein einziges Buch über den Anarchismus gelesen haben, und stattdessen auf Demonstrationen gehen, um sich im Pulk zu betrinken. Die Sozialismusfeindlichkeit der Anarchisten ist aber im Kern stets dieselbe wie bei Machno. Das macht sie zu „Weißgardisten unter schwarzer Flagge“, zu konterrevolutionären Feinden des Sozialismus unter scheinrevolutionären Symbolen.

1 „Anarchismus oder Sozialismus?“ (1907) In: J. W. Stalin „Werke“, Bd. 1, Dietz Verlag, Berlin 1950, S. 258.

2 „An den revolutionären Kriegsrat der Republik“ (6. Februar 1921) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 35, Dietz Verlag, Berlin 1979, S. 449.

3 https://www.nestormakhno.info/german/abc_de.htm Wenn nicht anders angegeben, zitiere ich Machno nach dieser digitalen Ausgabe der Broschüre.

4 „Anarchismus und Sozialismus“ (1901) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 5, Dietz Verlag, Berlin 1955, S. 334.

5 Ebenda.

6 Vgl. „Kleinbürgerlicher und proletarischer Sozialismus“ (7. November 1905) In: Ebenda, Bd. 9, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 446.

7 Friedrich Engels „Von der Autorität“ (1872/1873) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 18, Dietz Verlag, Berlin 1976, S. 308.

8 „Sozialismus oder Anarchismus“ (24. November 1905) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 10, Dietz Verlag, Berlin 1970, S. 59.

10 Vgl. 1. Könige 3, 9.

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