Weitere Antworten auf grundlegende Fragen

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Im Anschluss an die zuletzt beantworteten Fragen gab es einige interessante Nachfragen, welche ich hier abhandeln werde.

1. Gehörten die Produktionsmittel den Arbeitern, wenn sie dem Staat gehörten?

Das ist die häufigste Nachfrage aus Richtung von Anarchisten. Oft wurde und wird von ihnen der Ausspruch von der „freien Assoziation freier Produzenten“1 von Karl Marx gegen das Volkseigentum und die Planwirtschaft ins Feld geführt. Der Vorwurf hat den syndikalistischen Inhalt, als hätte Marx mit diesen Worten gemeint, man solle den Arbeitern des Einzelbetriebs sozusagen Aktien am eigenen Betrieb geben und sie auf dem „freien“ Markt agieren lassen. Was ausgelassen wird, ist, was Marx danach schrieb: Landwirtschaft, Bergbau, Industrie, mit einem Wort alle Zweige der Produktion werden allmählich auf die nutzbringendste Art organisiert werden. Die nationale Zentralisation der Produktionsmittel wird die natürliche Basis einer Gesellschaft werden, die sich aus Assoziationen freier und gleichgestellter, nach einem gemeinsamen und rationellen Plan bewußt tätiger Produzenten zusammensetzt.2 Marx sprach dort auch vom Verschwinden des Staates, er hatte bei diesen Ausführungen also den Kommunismus im Auge, es sind sogar Ausführungen, die er Zusammen mit Engels im Kommunistischen Manifest gemacht hatte3. Im Sozialismus gibt es noch einen Staat, die Diktatur des Proletariats, es gibt noch Eigentum, das nicht Volkseigentum ist, nämlich das Genossenschaftseigentum. Warum Marx die Freiheit hier so betont: Solange es nötig ist die kapitalistische Restauration zu verhüten, sei es durch eine Invasion von außen oder von innen durch einen Aufstand oder eine revisionistische Clique, gibt es keine „Freiheit für jeden“, sondern eben nur für die Werktätigen, wie es im Kapitalismus nur Freiheit für die Bourgeoisie gibt. Engels schrieb einmal an August Bebel: „Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, deren man sich im Kampf, in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist es purer Unsinn, vom freien Volksstaat zu sprechen: solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen.“4 Bert Brecht brachte es poetischer auf den Grund: „Man kann nicht sagen: In dem Arbeiterstaat Rußland herrscht die Freiheit. Aber man kann sagen: Dort herrscht die Befreiung.“5 Das ist auch einer der Gründe, warum der „Staat des ganzen Volkes“, den Chruschtschow auf dem XXII. Parteitag der KPdSU 1961 verkündete, ein offener Bruch mit der Diktatur des Proletariats und des Aufbaus des Sozialismus ist. Das verkündet eine „Klassenharmonie“, obwohl der Klassenkampf weiterhin stattfindet. Das geht natürlich auf Kosten der Werktätigen. Es kommt beim Staat darauf an, wessen Staat das ist. In einer Diktatur des Proletariats, einem sozialistischen Staat, bedeutet das das Eigentum der Arbeiter. Reformisten übertragen dies analog auch auf den kapitalistischen Staat und lassen aus dem Auge, dass dabei weder die Arbeiterklasse an der Macht ist und über die gesellschaftliche Produktion als Ganzes bestimmt, noch eine Planwirtschaft besteht. Wenn man auf der Grundlage der kapitalistischen Wirtschaft, mit Lohnarbeit, Warenproduktion und dem bestehen der Diktatur der Bourgeoisie, des bürgerlichen Staates, Staatsbetriebe wirtschaften lässt, so ist dies in der Tat ein staatskapitalistischer Sektor. Es ist dabei aber zu beachten, dass dieser eben nur ein Sektor ist und nicht alles dominierend. Kapitalismus benötigt Privateigentum, es kann nicht hauptsächlich auf Staatseigentum beruhen. Staatskapitalistische Betriebe sind in den allermeisten Fällen solche, die Monopolkonzerne sind, welche wichtige Infrastruktur, sei es ökonomisch oder verkehrsmäßig, umfassen, welche der Bourgeoisie in ihrer Gesamtheit nutzen. Das offenkundigste Beispiel ist die Eisenbahn. Diese lässt sich nicht effektiv für die Volkswirtschaft als Ganzes betreiben, wenn sie in einzelne Privatbetriebe zerschlagen werden würde. Es kann eben nur ein Infrastrukturnetz geben. Die staatskapitalistische Bewirtschaftung hat den Zweck als Katalysator für den Privatsektor. Es steckt dahinter also kein „Stückchen Sozialismus im Kapitalismus“.

2. Was wäre, wenn man den Arbeitern die Betriebe in das Eigentum der Belegschaft überführen würde?

Kurt Eisner bezeichnete die syndikalistische Übergabe der Betriebe an deren Belegschaft, anstatt sie in Staatseigentum der proletarischen Diktatur, dadurch in Volkseigentum, zu verwandeln zutreffend als „Massenkapitalismus“6. Der Effekt wäre wie eine Zurücksetzung auf die Frühzeit des Kapitalismus, als es noch sehr viele Kleinbetriebe gab, nur im genossenschaftlichen Maßstab. Letztendlich werden sich auch dort die Betriebe einander in den Ruin konkurrieren und die auf dem Markt erfolgreichen Genossenschaften werden Lohnarbeiter einstellen und die Genossenschaftsgründer, die ehemaligen Betriebsarbeiter des Einzelbetriebs, sich aus der Arbeit zurückziehen, als Aktionäre.

Durch den Revisionismus in der Ökonomik wurde den Betrieben eingeräumt, selbstständig zu investieren, akkumulieren und Bonuszahlungen zu verteilen. Formell blieb der sozialistische Staat weiterhin Eigentümer, aber die Belegschaften verfügten über den Einzelbetrieb als sei es eine Genossenschaft, die auf dem Markt agiert. Meist wurde der Lohn für die Arbeiter noch aus einem gesamtstaatlichen Lohnfond bezahlt, aber in Ungarn unter Kádár war selbst das nicht mehr der Fall gewesen. So gab es in der DDR unter Erich Honecker zum Beispiel die „eigenen Fünfjahrpläne“7 oder die proklamierte „Einheit von Wert und Gebrauchswert“8, die nicht existiert, weil der Wert eine ökonomische Kategorie ist, während der Gebrauchswert bloß den Nutzen darstellt. Man übertrug analog die marktwirtschaftliche Wirtschaftsweise des Kapitalismus in die Beziehungen zwischen den Betrieben. Das ist ökonomisch so sinnvoll gewesen, als würde man eine Biologieklausur schreiben und beim Tischnachbarn, der eine Deutschklausur schreibt, abgucken.

Walter Ulbricht kritisierte im November 1966 marktwirtschaftliche Tendenzen, die das NÖSPL, das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung, mit sich brachte: Es kommt hinzu, daß einige Werkleitungen und einige VVB die Grundsätze des neuen ökonomischen Systems in der Preisbildung absichtlich falsch ausgelegt haben. Sie waren und sind bestrebt, die Rentabilität ihrer Produktion zu erhöhen, indem sie bei unveränderten Selbstkosten die Preise ihrer Waren hochzudrücken versuchen, anstatt durch bessere Arbeitsorganisation und Technologie bei den gesetzlich kalkulierten Preisen die Selbstkosten zu senken und auf diesem richtigen Wege eine höhere Rentabilität zu erreichen. Die zuständigen Staatsorgane, die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion und andere Organe haben eine Reihe solcher Verstöße aufgedeckt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen.“9 Das war der Grund, warum es auf dem VII. Parteitag der SED im April 1967 durch das Ökonomische System des Sozialismus (ÖSS) ersetzt wurde, das dem Plan wieder mehr Autorität gab. Unter Erich Honecker wurde der Plan weitgehend zum Wunschzettel, da man den Einzelbetrieben immer weitere Autonomie gab. Zum 150. Geburtstag von Karl Marx verkündete Walter Ulbricht: „Es ist heute ein Anachronismus, den Übergang zu einer Marktwirtschaft für den Sozialismus zu empfehlen. Dies würde auch unausbleiblich zu einer Verlangsamung des Entwicklungstempos, zu einem Zurückbleiben und zu einer gewissen Instabilität der sozialistischen Ordnung führen. Die Orientierung auf eine Marktwirtschaft bedeutet letzten Endes, gerade auf die Mobilisierung der entscheidenden Vorzüge des Sozialismus, nämlich auf die gesamt-gesellschaftliche Planung, die dem Kapitalismus systemfremd ist, zu verzichten.“10 Damit behielt er recht, wie nicht nur die marxistische Wirtschaftstheorie zeigt, sondern auch durch die Praxis, die nach seinem abgenötigten Rücktritt erfolgte.

3. War die DDR überhaupt demokratisch?

Der Maßstab der bürgerlichen Demokratie ist Verhältniswahl ohne Abberufbarkeit und ohne Rechenschaft gegenüber den Wählern. Das drückt sich besonders hämisch in Artikel 38 des Grundgesetzes aus, demnach Abgeordnete nur ihrem Gewissen gegenüber verantwortlich sind11. Die Abgeordneten könnten sogar ganz legal zugeben: „Wir haben euch Wähler die ganze Wahlkampagne hindurch mit falschen Versprechungen belogen!“ Ohne die Rechenschaftspflicht und Abberufbarkeit bei Nichteinhaltung von Wahlversprechungen haben diese keinen praktischen Sinn. Sie dienen einer Scheinlegitimation, dadurch, dass man verschiedene Parteien wählen kann, die im Endeffekt alle sehr ähnliche bis deckungsgleiche Politik betreiben. Wer kann zum Beispiel bei der Senkung der Steuern für Unternehmen unter Gerhard Schröder mit Rot-Grün einen Unterschied in der Politik sehen zur Bankenrettung von Schwarz-Rot 2008 oder der Senkung der Hotelsteuer durch Schwarz-Gelb im Jahre 2009? Es ist eine Linie der kapitalistischen Politik, egal welche Parteien gerade regieren. Damit ist der bürgerliche Vorwurf „Immerhin sind wir kein Einparteienregime, wie die DDR!“ schon im Ansatz entwertet.

Die DDR war, entgegen der offiziellen bürgerlichen Darstellung, kein Einparteiensystem. An der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, dem Namen der Volksfront der DDR, waren neben der SED noch die CDU (Ost), die NDPD, die LDPD, sowie die DBD beteiligt. Der SED kam natürlich die Avantgarderolle zu als Arbeiterpartei, den Weg zum Sozialismus konsequent aufzuzeigen. Kleinbürgerliche Anschauungen sind zu schwankend, als dass sie das alleine bewerkstelligen könnten, ohne Partei der Arbeiterklasse, an der das Kleinbürgertum sich anlehnen könnte, ob sie nun eigene Parteien besitzen oder nicht. Es war nicht bloß Lenin, der über die Notwendigkeit einer Avantgardepartei der Arbeiterklasse sprach und dass diese die Spitze in einem Bündnis mit den kleinbürgerlichen Schichten sein muss. Das findet sich schon bei Marx und Engels. So schrieb Engels im Dezember 1889 an Gerson Trier: „Daß das Proletariat seine politische Herrschaft, die einzige Tür in die neue Gesellschaft, nicht erobern kann ohne gewaltsame Revolution, darüber sind wir einig. Damit am Tag der Entscheidung das Proletariat stark genug ist zu siegen, ist es nötig – und das haben Marx und ich seit 1847 vertreten –, daß es eine besondre Partei bildet, getrennt von allen andern und ihnen entgegengesetzt, eine selbstbewußte Klassenpartei. Darin liegt aber nicht, daß diese Partei nicht momentan andre Parteien zu ihren Zwecken benutzen kann. Darin liegt ebensowenig, daß sie nicht andre Parteien momentan unterstützen kann in Maßregeln, die entweder unmittelbar dem Proletariat vorteilhaft oder die Fortschritte im Sinn der ökonomischen Entwicklung oder der politischen Freiheit sind.“12 Die Gründung einer Volksfront hat ihre Anfänge nicht erst bei Dimitroff, sondern bereits Ansätze bei Marx und Engels. Selbst die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung merkte im Jahre 1981 zur Nationalen Front an: „Daß die DDR im Vergleich zu anderen kommunistischen Staaten Osteuropas seit den sechziger Jahren eine relative innere Stabilität aufweist, verdankt sie zum Teil der intensiven Arbeit mit der Nationalen Front. In den anderen Staaten gibt es zwar ähnliche Organisationen, aber sie führten und führen zum größten Teil ein Scheinleben. Das gilt vor allem für Polen.“13 Diese Einschätzung wurde zu einer Zeit gemacht, als dieses Verhältnis zu kippen begann, sie hängt also den realen Verhältnissen ein paar Jahre zurück. Die Volksrepublik Polen hatte, im Gegensatz zur DDR, nie den Sozialismus erreicht. Man hatte zwar die Großbetriebe verstaatlicht, aber nicht die Kleinbetriebe von Handwerk und Landwirtschaft kollektiviert, keine Planwirtschaft und das Land wurde deshalb von Unruhen heimgesucht. Polen folgte dem revisionistischen Kurs Tito-Jugoslawiens. Leider ist es das, was die Menschen in Polen bis heute unter dem Wort „Sozialismus“ verstehen, eben weil sie es nie anders erlebt hatten. Nun zurück zur DDR.

Wie sah das Wahlsystem der DDR aus? Der demokratische Zentralismus war das Grundprinzip für die Funktionalität der Volksvertretungen. Die Kandidaten wurden in den Arbeitsbrigaden, den Betrieben und Genossenschaften in Beratungen vorgeschlagen14. Diese Vorschläge kamen dann auf die Liste der Nationalen Front am Wahltag15. Ein Kandidat der Liste wurde für sein Amt bestätigt, wenn er mehr als 50% der Stimmen auf sich vereinen konnte16. Die Durchführung der Wahlen oblag einer Wahlkommission17. Zur Wahldurchführung wurde im Jahre 1969 angemerkt: „Der Grundsatz, daß die Wahlen geheim sind, erfordert, daß solche Bedingungen gegeben sind, die die Geheimhaltung der Stimmabgabe gewährleisten. Einheitliche Stimmzettel für die Wahl einer Volksvertretung sowie das Vorhandensein der Möglichkeit zur ungestörten und unbeobachteten Vorbereitung des Stimmzettels in einer Wahlkabine bilden Voraussetzungen zur Verwirklichung dieses Grundsatzes.“18 Das einzige, was in der bürgerlichen Geschichtsschreibung vorkommt, ist, dass es nur die Liste der Nationalen Front gab. Es wird nicht erwähnt, wie der Aufstellungsprozess abzulaufen hatte und wie unter Erich Honecker die sozialistische Gesetzlichkeit beim Wahlrecht verletzt worden war, durch die „offene Abstimmung“, also ohne Nutzung der Wahlkabinen, und Druck auf die Wählerversammlungen19. Das Wahlgeheimnis wurde untergraben und die Aufstellung von Kandidaten von unten war bloß eine Bewilligung von den Wünschen oberer Leitungen, was dies zu einem rein bürokratischen Formalakt machte, den man sarkastisch „Falttag“ nannte. Es wäre dennoch falsch zu behaupten, dass dieses System, nur weil es ausgehebelt wurde, nie ehrlich gemeint war.

Walter Ulbricht nahm an, dass man in der DDR keine umkämpften Wahlen bräuchte, weil es keine antagonistischen Klassenwidersprüche mehr gab, seitdem die Großbourgeoisie enteignet worden war20. Das war eine aus damaligen Erkenntnissen zwar plausible, aber falsche Ansicht. Li Dazhao schrieb einst: „Wahre Demokratie ist die völlige Aufhebung der über besondere Rechte auf politischem, ökonomischem und sozialen Gebiet verfügenden Klassen mit dem Ziel, daß das ganze Volk zum Arbeiter wird, der dem Staat und der Gesellschaft nützt.“21 Das bringt erst der Kommunismus, denn erst dort werden die Klassen aufgehoben sein. Auch im Sozialismus gibt es noch Klassenkampf, noch ein Ringen um eine sozialistische oder eine kapitalistische Linie. Auch wenn die Großbourgeoisie enteignet ist, so gibt es dennoch Elemente, die die Restauration des Kapitalismus anstreben, um sich selbst als neue Bourgeoisie die Taschen zu füllen. Deng Hsiaoping und Gorbatschow sind zwei Beispielpersonen, die damit durchgekommen sind. Sie bereicherten sich während den von ihnen selbst mitinitiierten Privatisierungen.

Der 17. Juni 1953 wird oft ins Feld geführt um mit einem Schlagwort zu behaupten, in der DDR habe es keinerlei Demokratie gegeben. Was geschah dort eigentlich? Es war ein faschistischer Putsch, der zum Ziel hatte, die sozialistische Regierung der DDR zu stürzen. Das ist der Grund, warum die BRD dessen so sehr gedenkt. Sie unterstützt das, was dem Klasseninteresse der deutschen Bourgeoisie entspricht. Die KgU, die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, wie sie sich nannte, hatte beim 17. Juni auch ihre Finger im Spiel. Wie Jahrzehnte später herauskam, war sie von der CIA finanziert worden22. Das ist eben Klassenkampf: Die Reaktionäre bekämpfen den Sozialismus, die Revolutionäre bekämpfen den Kapitalismus. Am 17. Juni waren lediglich 5,5% der Werktätigen in der DDR beteiligt23. Es war alles andere als ein „Arbeiteraufstand“ und schon gar nicht ein „Volksaufstand“. Der bürgerliche italienische Revolutionär Giuseppe Mazzini gab eine richtige Definition einer Revolution ab: „Die Revolutionen vollziehen sich durch das Volk und mit dem Volk.“24 Der 17. Juni brachte aber nicht das Volk zum Aufstand, sondern eine kleine Gruppe der Bevölkerung unter reaktionärem Banner. Es handelt sich um nichts als einen faschistischen Putsch. Was unterscheidet einen Putsch von einer Revolution? Lenin liefert dazu eine Definition: Von einem ´Putsch´ im wissenschaftlichen Sinne des Wortes kann man nur dann sprechen, wenn ein Aufstandsversuch weiter nichts als einen Klüngel von Verschwörern oder wahnwitzigen Narren zutage gefördert und in den Massen keinerlei Sympathie erweckt hat.“25 Der 17. Juni hatte keine breite Massenbasis und er erweckte auch keine große Sympathie in der DDR selbst. In der BRD wurde der 17. Juni zum „Tag der deutschen Einheit“ erklärt und zu Jahrestagen noch immer bis heute propagandistisch ausgeschlachtet. Während aber im Westen der 17. Juni 1953 und der Putsch von Horthyfaschisten in Ungarn 1956 gegen den Sozialismus ins Feld geführt werden, sammelt sich der Dreck unter dem Teppich der kapitalistischen Staaten. Aus der bürgerlichen Geschichtsschreibung wurden die Seiten herausgetrennt, auf denen der Generalstreik in Westdeutschland 1948 und der Triester Aufstand 1953 zu finden sein müssten.

Am 12. November 1948 traten in der Bizone 9 Millionen Arbeiter in den Generalstreik, unter Losungen, die man als „17. Juni anders herum“ bezeichnen könnte26. Auslöser war der eingetretene Preisanstieg durch die Währungsreform, weil die Preisbindung aufgehoben wurde. Beim Streik selbst ging es aber um mehr, nämlich um mehr Mitbestimmung im Betrieb sowie der Sozialisierung von Großbetrieben. Das waren unverkennbar sozialistische Forderungen. Es war nicht das erste Mal, dass in Westdeutschland die Forderungen nach Sozialisierung von Großbetrieben gestellt wurde. So zum Beispiel im nie in Kraft getretenen Artikel 41 der hessischen Landesverfassung. Die amerikanische Besatzungsbehörde verbot die Durchsetzung dieses Artikels bei Dekret. Die Lage war also dermaßen, dass die Spaltung Deutschlands nicht zwischen DDR und BRD verlief, sondern mitten durch die Gesellschaft der BRD selbst. „Die Monopolbourgeoisie hat die Nation gespalten, die Arbeiterklasse der beiden deutschen Staaten wird sie wieder einen.“27, merkte Walter Ulbricht dazu zutreffenderweise an.

Neben dem Generalstreik in Westdeutschland gab es in der Freien Stadt Triest, welche bis 1954 bestand als ein von Großbritannien und den USA besetzten Teil Italiens, im November 1953 einen Aufstand. Auslöser war ein Verbot für italienische Flaggen, das die Besatzungsmächte verabschiedet hatten. Die britische Wochenschau „The British Pathé“ gab damals „radikalen Studenten“ und „Italienern von außerhalb von Triest“ die Schuld für diesen Aufstand28. Die DDR-Wochenschau „Der Augenzeuge“ sah diesen Aufstand als einen Arbeiteraufstand und warf Großbritannien und den USA vor, dass sie die Stadt als einen „Militärstützpunkt im Mittelmeerraum“ missbrauchen würden29. Die Bilder vom Aufstand ähneln denen des 17. Junis, bis hin zu Pflastersteinwürfen auf Patrouillen. Diesem Aufstand wird von den Imperialisten aber nicht gedacht, weil es ihrem Narrativ widerspricht. Man müsste nämlich sonst zugeben, dass die USA und Großbritannien Unterdrücker revolutionärer Bestrebungen sind. Der Narrativ jedoch sieht weder die Existenz von revolutionären Bestrebungen der Massen vor, noch eine Berichterstattung über deren Unterdrückung. Dass es zu Revolutionen und Konterrevolutionen kommt, ist die offenste Form davon, dass Klassenkampf besteht. Das ist ein historischer Prozess, nichts, was unnatürlich wäre.

Deshalb ist es natürlich ein Fehler gewesen, wenn zum Beispiel der damalige Generalsekretär der Partei der Werktätigen Ungarns, Mátyás Rákosi, im Februar 1952 in einer Rede behauptete: Was würde nicht ´die Stimme Amerikas´ darum geben, könnte sie nur einen Fall aufweisen, wo man in den den Sozialismus errichtenden Ländern Tanks gegen die Massen auffahren läßt oder wo es sonstiger militärischer Maßnahmen bedürfte, wie sie tagtäglich ohne Unterlaß in den Ländern der imperialistischen Räuber der ´freien Welt´ vorkommen.“30 Der Klassenkampf verläuft eben nicht unbedingt friedlich, als könnte man die politische, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung nach der Machtübernahme durch das Proletariat nun auf Autopilot umstellen. Selbst wenn wir friedlich, ohne einen Schuss abzufeuern, an die Macht kämen, so würde die Bourgeoisie trotzdem die Konterrevolution vorbereiten. Das zeigt zum Beispiel die Erfahrung der Räterepublik Ungarn 191931. Im Oktober 1956 konnte man auch in Ungarn sehen, wie falsch Rákosi bei seiner Einschätzung lag.

Dies als kurzer Diskurs zu den Hintergründen derartiger Vorwürfe.

4. Welche Perspektive hat der Sozialismus und welchen Nutzen haben die Erfahrungen der sozialistischen Länder?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden optimistische Prognosen verkündet. „Das zwanzigste Jahrhundert gehört dem Sozialismus.“32, schrieb Paul Singer im Jahre 1902. Im Februar 1910 schrieb August Bebel in einem Brief an die „New York Call“: „Das 20. Jahrhundert ist mehrfach als das Jahrhundert der Socialreform bezeichnet worden. Ich betrachte es als das Jahrhundert der socialen Revolution, in dem die letzten Reste menschlicher Unfreiheit und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt werden.“33 Das 20. Jahrhundert war in der Tat ein Jahrhundert des Sozialismus. Die sozialen Konzessionen wären ohne das Voranschreiten des Sozialismus nicht denkbar gewesen, sie waren bloß als Eisbeutel gedacht, die man auf die vielen Wunden und Prellungen der Widersprüche des Kapitalismus warf. Diese milderten die Schärfe der Ausbeutung, schafften sie aber keineswegs ab. Den Rückbau der sozialen Konzessionen, die nach dem Ende der revisionistisch gewordenen sozialistischen Länder erfolgt ist, haben wir als Kinder passiv miterlebt, zum Beispiel mit der Einführung von Hartz IV und der Agenda 2010. Es ist die Zeit, in der wir aufgewachsen sind, in der wir sozialisiert wurden.

Man verkündete 1989 das „Ende des Sozialismus“ von bürgerlicher Seite. Francis Fukuyama verkündete in dieser Zeit das „Ende der Geschichte“, was er aber im Jahre 2018 relativierte34. Für ihn ist „Sozialismus“ lediglich Sozialdemokratie, aber immerhin rückt er davon ab, dass der Neoliberalismus das letzte Wort in der Geschichtsschreibung sei. Übrigens wurde schon beim Sturz der Pariser Kommune, der ersten Diktatur des Proletariats der Welt, von der Bourgeoisie das „Ende des Sozialismus“ verkündet. Wilhelm Liebknecht kommentierte damals dazu: Als die Kommune überwältigt worden war, rief die Bourgeoisie voller Jubel: ´Das ist das Ende des Sozialismus!´ Oh, ihr Narren! Der Sozialismus wird nicht sterben, solange es Proletarier gibt, und Proletarier gibt es, solange es Bourgeoisie gibt, nämlich Kapitalisten, die fett werden von der Arbeit der hungernden Proletarier. Sozialismus ist kein philanthropischer Traum, sondern eine logische Notwendigkeit. Es ist die unvermeidliche Konsequenz aus unserer sozialen Lage.“35 Ein Sprichwort besagt doch „Totgesagte leben länger.“ und das trifft auch auf den Sozialismus zu. Der Imperialismus besteht weiter, die Lohnarbeit besteht weiter und damit der Klassenwiderspruch zwischen Proletariat und Bourgeoisie, die Diktatur der Bourgeoisie besteht weiter und die damit verbundene politische Unterdrückung. Wir brauchen mehr als ein paar Sozialreformen, wir brauchen den Sozialismus. Dieser beinhaltet als Grundlagen 1. die Diktatur des Proletariats und den damit verbundenen Klassenkampf gegen bürgerliche Elemente, 2. Volkseigentum und Genossenschaftseigentum als ökonomische Grundlage und 3. Planwirtschaft zur proportionalen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft.

Es nützt nichts zu sagen „Dieses oder jenes Land war nicht wirklich sozialistisch!“, obwohl es das war, aber dort Fehler begangen wurden. Solche Länder bestehen ja nicht bloß aus Fehlern, sondern sind primär Erfahrungsquellen aus der Praxis und zeigen, was funktioniert und was nicht. Wenn wir stattdessen jedoch den Anspruch haben, ein sozialistisches Land, das von Fehlern und Mäkeln unbefleckt ist zu suchen, dann jagen wir einer Utopie nach, statt einem realen politischen Ziel. Das Hauptproblem war der Revisionismus, der Rückbau an Grundsätzen der sozialistischen Demokratie, Wirtschaftsplanung und ideologischen Leitsätzen, wie dem Klassenkampf, betrieb. Nur weil die Sowjetunion, China und die DDR revisionistisch wurden – soll man sie deshalb von Anfang bis Ende verdammen, als hätten sie nie irgendwelche Erfolge vorzuweisen? Aus welchen Erfahrungen wollen wir dann lernen, es besser zu machen?

Wir können uns keine Denktabus aufhalsen, ansonsten stehen wir vor hohen Ansprüchen, aber ohne Taten. Das ist wie Christian Lindners Ausspruch „Lieber nicht regieren, als falsch regieren.“36, nur ist für uns ein solches wahltaktisches Manöver in der Praxis Klassenverrat. Wir müssen eine Lösung finden, auch wenn es gewissen passiven Schreihälsen nicht gefällt. Selbst wenn etwas richtig gemacht wird oder überwiegend richtig gemacht wird, so stürzen sie sich dennoch auf die Härchen in der Suppe oder sie erfinden Schauermythen, um uns zu diskreditieren. Das macht sie zu willigen Handlangern der Bourgeoisie, denn auch wenn sie vorgeben, eine Veränderung zu wollen, dadurch dass sie den Sozialismus als Gesellschaftsordnung in der Praxis diskreditieren, verteidigen sie über Bande den Kapitalismus. Ein Beispiel ist die Linksjugend, die im „antiautoritären“ 68er-Jargon Verbalattacken mit den geläufigen bürgerlichen Behauptungen gegen den Sozialismus reitet37. Wir müssen selbst recherchieren und selbst denken lernen. Wenn man der Bourgeoisie alles aufs Wort glaubt, aber dennoch meint „links“ zu sein, dann endet man bestenfalls als Demagoge für die SPD im Halbjahr vor der Bundestagswahl, schlimmstenfalls eines Tages wie Horst Mahler. Der französische Syndikalist Georges Sorel warnte schon im Jahre 1908 davor, dass der Reformismus in demagogischer Rechtmacherei gegenüber verschiedenen Wählergruppen endet, ohne klare Ziele38. Das endet in einer perspektivlosen Sackgasse für die sozialistische Bewegung, es bedeutet eine Verwandlung in eine bürgerliche Partei, die nur von Wahl zu Wahl versucht ihre Pöstchenanteile zu vergrößern auf Kosten der Werktätigen, ohne irgendwelche soziale Versprechungen einzuhalten. Und ausgerechnet solche parlamentarischen Taschenspieler erklären alle sozialistischen Staaten für „nicht sozialistisch“. Das ist keine ehrliche Fehleinschätzung, sondern Teil ihrer Demagogie. Man soll ihnen glauben, dass Sozialismus eine Heilserwartung in Stimmzetteln wäre, wenn es bloß eine Regierung mit Beteiligung der Linkspartei gäbe. Dort wo sie jedoch an Landesregierungen beteiligt ist, verhält sie sich keineswegs anders als die anderen bürgerlichen Parteien auch. Paul Singer sagte einst: „Die Sozialdemokratie [damals gleichbedeutend mit Marxismus und Sozialismus; L. M.] darf niemals den Boden des Klassenkampfes verlassen, nie ihren revolutionären Charakter verlieren.“39 Das ist aber eben passiert, nicht nur mit der SPD, sondern auch mit der Linkspartei, sogar schon unter Erich Honecker als SED, als sie das SED-SPD-Papier im August 1987 unterzeichnete. Dieses beinhaltete eine Absage an den Klassenkampf. Genau aus solchen Gründen brauchen wir unsere eigene Partei und eigene Nachforschungen.

1Karl Marx „Über die Nationalisierung des Grund und Bodens“ (März/April 1868) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 18, Dietz Verlag, Berlin 1976, S. 62.

2Ebenda.

3Siehe: „Manifest der Kommunistischen Partei“ In: Ebenda, Bd. 4, Dietz Verlag, Berlin 1977, S. 481.

4Friedrich Engels „Brief an Bebel“ (18./28. März 1875) In: Ebenda, Bd. 19, Dietz Verlag, Berlin 1987, S. 7.

5Über die Diktaturen einzelner Menschen“ In: Bertolt Brecht „Schriften zur Politik und Gesellschaft 1919 – 1956“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1974, S. 103.

6Die Aufgabe des bayerischen Sozialisierungs-Ausschusses“ (22. Januar 1919) In: Kurt Eisner „Sozialismus als Aktion – Ausgewählte Aufsätze und Reden“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 126.

7Siehe: Erich Honecker „Bericht des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an den IX. Parteitag der SED“ (18. – 22. Mai 1976), Dietz Verlag, Berlin 1976, S. 86.

8Siehe: Erich Honecker „Bericht des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an den XI. Parteitag der SED“ (17. – 21. April 1986), Dietz Verlag, Berlin 1986, S. 46.

9Antwort auf Fragen in der Diskussion zum VII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (11. November 1966) In: Walter Ulbricht „Probleme der sozialistischen Leitungstätigkeit“, Dietz Verlag, Berlin 1968, S. 467/468.

10Walter Ulbricht „Die Bedeutung und die Lebenskraft der Lehren von Karl Marx für unsere Zeit“ In: Leipziger Volkszeitung vom 4. Mai 1968, Nr. 123, S. 12.

12Engels an Gerson Trier in Kopenhagen“ (18. Dezember 1889) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 37, Dietz Verlag, Berlin 1967, S. 326.

13Die Nationale Front der DDR – ihre Rolle und Funktion“, Verlag Neue Gesellschaft, Bonn 1981, S. 40.

14Vgl. „Nationale Front des demokratischen Deutschland – sozialistische Volksbewegung – Handbuch“, Dietz Verlag, Berlin 1969, S. 143.

15Vgl. Ebenda, S. 146.

16Vgl. Ebenda, S. 136.

17Vgl. Ebenda, S. 137.

18Ebenda, S. 135.

20Vgl. „Nationale Front des demokratischen Deutschland – sozialistische Volksbewegung – Handbuch“, Dietz Verlag, Berlin 1969, S. 132. Dies sagte Ulbricht 1965 in einer Sitzung des Staatsrates.

21Zit. nach: W. A. Kriwzow/W. A. Krasnowa „Li Dazhao – vom revolutionären Demokraten zum Marxisten-Leninisten“, Dietz Verlag, Berlin 1981, S. 148.

23Vgl. Die gegenwärtige Lage und der neue Kurs der Partei“ (24. – 26. Juli 1953) In: Otto Grotewohl „Im Kampf um die einige Deutsche Demokratische Republik“, Bd. III, Dietz Verlag, Berlin 1954, S. 430. Es handelte sich um 300.000 von 5,5 Millionen Werktätigen. Lediglich in 272 von 10.000 Gemeinden der DDR gab es Unruhen.

24Rundschreiben der Verbindung ´Junges Italien´“ (8. Dezember 1831) In: Giuseppe Mazzini „Politische Schriften“, Bd. 1, Reichenbach´sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1911, S. 121.

25Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung“ (Juli 1916) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 22, Dietz Verlag, Berlin 1971, S. 363.

27Walter Ulbricht „Die Bedeutung des Werkes ´Das Kapital´ von Karl Marx für die Schaffung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der DDR und den Kampf gegen das staatsmonopolistische Herrschaftssystem in Westdeutschland“ (12./13. September 1967), Dietz Verlag, Berlin 1970, S. 16.

30Mátyás Rákosi „Der Weg unserer Volksdemokratie“ (29. Februar 1952), Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 59.

31https://www.die-rote-front.de/raeteungarn-im-kampfe-gegen-die-reaktion/ Ich hatte mich im vergangenen Jahr mit der Geschichte Räteungarns befasst und darüber einen Artikel geschrieben.

32Paul Singer „Die Sozialdemokratie in der Gemeinde“ (1902) In: Heinrich Gemkow „Paul Singer – Ein bedeutender Führer der deutschen Arbeiterbewegung“, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 145.

33August Bebel in Berlin an die ´New York Call´ zum nationalen Frauentag in den USA“ (3. Februar 1910) In: August Bebel „Ausgewählte Reden und Schriften“, Bd. 9, K. G. Saur Verlag, München 1997, S. 187.

35An den Redakteur des ´Workingman´s Advocate´“ (16. Juni 1871) In: Wilhelm Liebknecht „Briefe an den Chicagoer ´Workingman´s Advocate´“, Dietz Verlag, Berlin 1981, S. 149/150.

38Vgl. Georges Sorel „Reflections on Violence“, Cambridge University Press, Cambridge 1999, S. 49, Englisch.

39Paul Singer „Die Arbeiterpartei darf nie den Boden des Klassenkampfes verlassen“(14. – 20. Oktober 1891) In: Heinrich Gemkow „Paul Singer – Ein bedeutender Führer der deutschen Arbeiterbewegung“, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 95.

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