Wie real ist der Sozialfaschismus?

Der Artikel kann hier auch als PDF herunter geladen werden.

Heutzutage wird der Sozialfaschismus kaum noch thematisiert und für die Vergangenheit allgemein negiert. Ist der heutige Status quo korrekt? Was hat es mit dem Sozialfaschismus auf sich? Was für Auswirkungen hat dieser Themenkomplex noch heute? Diese Fragen werde ich beantworten.

Der heutige Status quo

Der heutige Status quo ist, dass man verneint, dass der Sozialfaschismus existiert. Dies hat seine Wurzeln in späteren Unterschätzungen in der DDR, soweit ich herausfinden konnte, während der Honecker-Ära. In den Anmerkungen zu Werksammlungen, welche nach 1971 erscheinen sind, wird die Sozialfaschismus-These völlig abgelehnt. Von diesen werde ich hier einige Beispiele anführen. Erstes Beispiel: Band IV der „Gesammelten Reden und Schriften“ von Wilhelm Pieck. In einer Anmerkung wird zurückgewiesen, dass die Nutzung des Reichsbanners zum Streikbruch und zu Angriffen auf Kommunisten eine Charakteristik des Sozialfaschismus sei und es wird auf Wilhelm Piecks Rede auf der Brüsseler Parteikonferenz 1935 verwiesen1.

In einer weiteren Anmerkung wird zurückgewiesen, dass der proimperialistische antikommunistische Kurs der SPD-Führung, das Massaker vom 1. Mai 1929 in Berlin, der Verbot des Roten Frontkämpferbund und die Unterstützung der Faschisierung unter Brüning Ausdruck des Sozialfaschismus sind und es wird abermals auf Wilhelm Piecks Rede auf der Brüsseler Parteikonferenz 1935 verwiesen2. Eine ausführliche Anmerkung in den „Ausgewählten Reden und Aufsätzen“ von Franz Dahlem besagt: „Als die führenden imperialistischen Kreise Ende der zwanziger Jahre Kurs auf den Übergang zur faschistischen Diktatur nahmen, verschärften rechte sozialdemokratische Führer ihr Vorgehen gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung, wodurch sie die Spaltung der Arbeiterklasse vertieften. Darüber hinaus schränkten sie in entscheidenden Funktionen des bürgerlichen Staates (als Minister, Polizeipräsidenten usw.) die demokratischen Rechte und Freiheiten der Werktätigen ein. Auf diese Weise erleichterten sie die Faschisierungspolitik des Monopolkapitals. Unter diesen Umständen fand in der kommunistischen Bewegung die Ansicht Verbreitung, die rechtssozialdemokratische Politik und Ideologie entwickle sich zu einer Art ´Sozialfaschismus´. Diese These beachtete nicht, daß die Sozialdemokratie als Teil der Arbeiterbewegung, auf Grund ihrer sozialen Basis und ihrer Tradition den faschistischen Bestrebungen des Monopolkapitals selbst objektiv im Wege stand und nicht ohne weiteres in ein faschistisches Regime zu integrieren war. Diese These konnte dazu führen, zwischen Faschismus und Sozialreformismus nicht genügend zu differenzieren, und erschwerte das Ringen der KPD um die Einheitsfront von Kommunisten und Sozialdemokraten. Ungeachtet dessen wirkte die KPD unermüdlich für die Aktionseinheit der Arbeiterklasse und schlug der Sozialdemokratie mehrfach vor, den Kampf gegen die faschistische Gefahr gemeinsam zu führen. In ihrer politischen Praxis trat die erwähnte Auffassung schon Anfang der dreißiger Jahre immer mehr in den Hintergrund; vom VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1935 wurde sie eindeutig als falsch gekennzeichnet. Die opportunistische Führung der deutschen Sozialdemokratie hingegen hielt hartnäckig an ihrer verleumderischen Gleichstellung von Kommunisten mit den Faschisten fest, bekämpfte noch unmittelbar vor der Etablierung der Hitlerdiktatur die KPD als den Hauptfeind und sabotierte weiterhin systematisch das Zustandekommen der antifaschistischen Aktionseinheit.“3 Das bezieht sich zwar direkt auf den VII. Komintern-Kongress, aber letztendlich wurde mit der Brüsseler Parteikonferenz der KPD die Politik der Partei neu ausgerichtet auf Grundlage dessen. Wilhelm Pieck hielt auf diesem das Hauptreferat, aber in diesem findet sich keine Totalnegierung der Sozialfaschismus-Theorie. Pieck betonte lediglich, dass man sich lange Zeit zu sehr auf die SPD konzentriert hat, man den Kampf gegen den Klassenverrat dieser in ein richtiges Verhältnis zum Aufkommen des Hitlerfaschismus hätte stellen müssen, macht jedoch ebenfalls klar, dass es notwendig war gegen die Politik der Klassenzusammenarbeit der SPD mit der Bourgeoisie zu führen4. Der VII. Komintern-Kongress gab der Sozialdemokratie die Schuld daran, dass der Faschismus in Deutschland zur Macht gelangen konnte5. Man war sich also sehr wohl bewusst, dass die SPD-Führung aktiv den Faschismus unterstützte6, auch wenn das im Nachhinein heruntergespielt worden ist. Was lediglich unter Kritik stand, war eben das Sektierertum gegenüber den sozialdemokratischen Arbeitern und dass man diesen die Schuld gab für die Taten der Parteiführung. Wilhelm Pieck führte in seinem Referat dazu ein Beispiel an: „Ich erinnere nur an die Fehler, die im Anschluß an das Blutbad von Zörgiebel am 1. Mai 1929 dadurch gemacht wurden, daß wir die sozialdemokratischen Arbeiter dafür verantwortlich machten und die sozialdemokratischen Betriebsräte als ´kleine Zörgiebels´ bezeichneten. Die Theorie des Genossen Merker, eine Gleichstellung der sozialdemokratischen Arbeiter mit den reaktionären Führern der SPD, hat eine Verständigung mit den sozialdemokratischen Arbeitern zum gemeinsamen Kampf lange Zeit fast unmöglich gemacht. Merker wurde deswegen von der deutschen Parteiarbeit entfernt, aber seine Theorie, die von ihm selbst verurteilt wurde, hat sich noch lange in der Partei ausgewirkt, weil sie eben ihre Wurzel im Sektierertum hatte.“7 Die Überwindung des Sektierertums, welches seinen Ausdruck in der Gleichsetzung von SPD-Basis und SPD-Führung fand, war Kerninhalt der Parteikonferenz, nicht die Zurückweisung der Sozialfaschismus-Theorie an sich.

Bei Kurt Gossweiler findet man: Die Formulierung ́Sozialfaschismus ́ wäre nur dann zutreffend, wenn die SPD zum Träger der faschistischen Diktatur, d. h. der offenen, terroristischen Diktatur über die gesamte Arbeiterklasse und deren Organisationen werden könnte, ohne daß sie damit aufhörte, Sozialdemokratie zu sein, d. h. Agentur der Bourgeoisie, deren spezifischer Wert für die Bourgeoisie darin besteht, daß sie das Vertrauen eines erheblichen Teiles der organisierten Arbeiterklasse besitzt.8 Auch das ist nicht korrekt, hat den gleichen Fehler, wie die Behauptung, dass die SPD aus ihrer Tradition und sozialen Basis nicht faschistisch werden könne. Dabei muss man bedenken, dass die Parteibasis spätestens seit 1914 in der Partei nichts mehr zu sagen hatte und von oben herab wieder und wieder belogen und betrogen wurde unter den verschiedensten Versprechungen und Floskeln. Die Parteiführung unterstützte die Faschisierung Brünings, bis hin zur NS-Außenpolitik und dem gemeinsamen Aufmarsch mit den Nazis am 1. Mai 1933, was zunehmends SPD-Mitglieder in die Opposition zu ihrer Parteiführung trieb und sie dazu drängte, mit der KPD das Bündnis zu suchen, auf eigene Faust. Genaueres folgt im nächsten Abschnitt.

Was Sozialfaschismus bedeutet

Der Sozialfaschismus ist die Unterstützung des Faschismus durch selbsternannte sozialdemokratische oder sozialistische Parteien. Dieser wird getragen von der Arbeiteraristokratie der Parteiführung, während die werktätigen Basismitglieder mit demagogische Phrasen passiv gehalten werden. Die Geschichte der SPD liefert dafür Beispiele zu Genüge. Man kann sagen, dass die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg und die Niederschlagung des Spartakusaufstandes die Geburtsstunde des Sozialfaschismus ist, denn die SPD verbündete sich dafür mit den faschistischen Freikorps. Walter Ulbricht resümierte am 30. Jahrestag der Ermordung von Karl und Rosa: Die bürgerlich-demokratische Republik mit Ebert, Scheidemann, Noske an der Spitze begann ihre Existenz im Zeichen der Ermordung der großen Friedenskämpfer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Die Mörder, die Pflugk-Harttung, Killinger, von Epp und wie sie alle hießen, wurden später die Gründer der SS und die Organisatoren des Hitlerkrieges. Das damalige Bündnis Ebert mit Hindenburg, des Gewerkschaftsführers Legien mit dem Konzernherren

Stinnes, des Sozialdemokraten Noske mit den weißgardistischen Truppen und Mördern der Gardekavallerie-Schützendivision war die Grundlage für den späteren Weg zum Faschismus.“9

Es ging danach genauso weiter. Ein Abriss von Klement Gottwald: „Im Jahre 1921 wurde der mitteldeutsche Aufstand niedergeschlagen, im Jahre 1923 ließ der sozialdemokratische Reichspräsident Ebert die sozialistisch-kommunistische Regierungen in Sachsen und Thüringen auseinanderjagen und den Aufstand in Hamburg unterdrücken. Am 1. Mai 1929 ließ der sozialdemokratische Polizeipräsident Zörgiebel auf die Berliner Arbeiter schießen und noch im Juni 1932 richtete die sozialdemokratisch geführte Polizei unter den Arbeitern von Altona, die gegen Hakenkreuzlerprovokationen demonstrierten, ein Blutbad an. […] Die deutsche Sozialdemokratie hat durch ihre gesamte Politik während der letzten 15 Jahre der heutigen faschistischen Diktatur Hitlers den Weg geebnet.“10 Dies waren Taten der SPD-Parteiführung, die Parteibasis hatte damals faktisch den Kurs der Partei nicht mitzubestimmen (so auch heute nicht!). Franz Dahlem schrieb einst über die SPD-Basismitglieder, dass diese „wie Mamelucken behandelt werden, die nichts zu sagen haben“ und „auch den niederträchtigen Henkersdienst für den Faschismus schlucken sollen“11. Wilhelm Pieck schrieb im Juli 1930, dass die SPD-Führer keinen ernsten Kampf gegen die Nazis führen würden, da sie die Einheitsfront des Proletariats verhinderten und „ebenso wie die Nazis vom Sozialismus nur zur Täuschung der Massen reden, in Wirklichkeit aber durch ihre Tätigkeit der faschistischen Diktatur den Weg bereiten.“12. Das deckt sich mit dem, was Ernst Thälmann im März 1931 sagte: Der sogenannte Kampf zwischen Nazis und SPD ist kein prinzipieller Kampf. Denn die Sozialdemokratische Partei und ihre Führer und auch die Nationalsozialistische Partei und ihre Führer stehen beide auf dem Boden des kapitalistischen Systems und verteidigen es gegen die revolutionäre Arbeiterschaft. Ihr Kampf untereinander ist nur ein Konkurrenzkampf um die Ministersessel und die übrigen Futterkrippen der Republik.“13 Auf die SPD-Führung traf dies durchaus zu, aber es wurde zu wenig differenziert zwischen der Mitgliederbasis und dem Parteivorstand. Dem lag die falsche Theorie der „Zwillingsbrüder“14 von NSDAP und SPD zugrunde. Diese ist deshalb falsch, weil sie nicht beachtet, welche Massenbasis SPD und NSDAP hatten, mit welcher Demagogie sie welche Teile der Massen ansprachen. Vereinfacht: Die SPD versprach den Sozialismus im Kapitalismus, mit der Diktatur der Bourgeoisie; die NSDAP hatte pseudosozialistische Demagogie in direkter Verbindung mit chauvinistischer Hetze (Antisemitismus usw.). Die SPD-Führung tat das, was Thälmann vorhersagte: Sie verteidigte ihre „Futterkrippe“ zu Füßen des Kapitals und unterstützte die bürgerliche Diktatur bis zuletzt, also bis hin zum Faschismus, und sogar im Faschismus. Das war die Folge aus dem Ausverkauf der SPD-Führung an die Bourgeoisie, sie gingen den Weg des Kapitals bis an dessen Ende. Dafür gibt es einige folgenschwere historische Beispiele. Erwähnt wurden bereits die Massaker am 1. Mai 1929 in Berlin und am 17. Juni 1932 in Altona durch Polizeipräsidenten der SPD. Das war aber noch nicht alles, was bis einschließlich 1933 geschehen ist. Die SPD unterstützte die halbfaschistischen Präsidialkabinette, darunter ab dem 18. Oktober 1930 das Kabinett Brüning15. Am 20. Juli 1932 sandte die KPD der SPD ein Angebot zum Generalstreik an, als durch den Preußenschlag die SPD-Regierung in Preußen für abgesetzt erklärt worden war, welches abgelehnt als eine „Provokation“ und man verwies als SPD auf die Reichstagswahlen am 31. Juli 1932; am 30. Januar 1933 schickte die KPD abermals ein Angebot zum Generalstreik an die SPD, als man Hitler zum Reichskanzler ernannte, was noch einmal von SPD-Seite abgelehnt wurde mit der Begründung, dass dies legal sei (dabei war klar, dass der Faschismus errichtet werden würde!); nach dem Reichstagsbrand sandte die KPD nochmals an die SPD und auch den ADGB das Angebot eines gemeinsamen Generalstreiks, worauf es keine Antwort gab; stattdessen ergaben sich die sozialdemokratischen Führer dem faschistischen Regime und stimmten am 17. Mai 1933 für die NS-Außenpolitik im Reichstag16. Letzteres nannte Walter Ulbricht einen „Ausdruck der Kapitulation“ vor dem Faschismus17. Diese Aufzählung muss noch ergänzt werden durch die „Schande vom 1. Mai“18, welche den offensichtlichsten Versuch darstellte, die sozialdemokratischen Gewerkschaften des ADGB in das faschistische System zu integrieren, indem man am 1. Mai 1933 mit den Nazis aufmarschierte; einen Tag später wurden die Gewerkschaften brutal zerschlagen und deren Vermögen beschlagnahmt durch die Hitlerfaschisten. Franz Dahlem sagte über dieses Ereignis auf den VII. Weltkongress der Komintern: Diesem heroischen Kampf der KPD stand gegenüber eine schmähliche Kapitulation der sozialdemokratischen Führer vor dem Faschismus. Als bereits Tausende sozialdemokratischer Funktionäre in den Gefängnissen saßen, gingen die reformistischen Gewerkschaftsführer Leipart und Graßmann zu den Führern der faschistischen Betriebszellenorganisationen, um mit ihnen wegen der Übergabe der freien Gewerkschaftsorganisationen zu verhandeln. Freiwillig traten sie für die Eingliederung der Gewerkschaften in den faschistischen Staat ein. Freiwillig hißten sie am 1. Mai 1933 auf den Gewerkschaftshäusern die Hakenkreuzfahnen.“19

Das war noch bei weitem nicht der ganze Sockel des Eisbergs. Auch nach der Errichtung des Faschismus ging der Sozialfaschismus unter neuen Bedingungen weiter, durch den SPD-Parteivorstand im Exil. Dieser lehnte die Zusammenarbeit mit der KPD ab, auch für die Ziele, die sie auf Druck des linken Parteiflügels im Januar 1934 in einem Manifest formulierten20. Stattdessen unterstützte der Parteivorstand der SPD Großbritannien, obwohl dessen Regierung durch Konzessionen versuchte Hitler in einen Krieg gegen die Sowjetunion zu lenken, was schon damals bekannt war21. Das war noch längst nicht alles. Die SPD-Führung versuchte (was sie übrigens bis heute tut und auch das offizielle bürgerliche Geschichtsbild prägt) die Verantwortung dafür, dass der Faschismus zur Macht kam, auf die KPD abzuwälzen, statt selbstkritisch den eigenen Anbiederungskurs an die Bourgeoisie zu analysieren. Friedrich Stampfer führt dazu das Beispiel des BVG-Streiks 1932 an22, wo die NSDAP das einzige Mal dem Aufruf der KPD gefolgt ist, sich an dem Streik zu beteiligen. Dabei rief die KPD auch SPD und ADGB in den Streik, das machte Ulbricht gegenüber von Stampfer klar. Die Intention der Nazis hinter der Beteiligung war keineswegs, dass man den Arbeitern helfen wollte, denn das war der einzige Streik, an dem sie jemals teilgenommen haben, statt zum Streikbruch aufgefordert zu haben. Die wahre Intention war, dass man befürchtete noch mehr Unterstützung zu verlieren in der Arbeiterklasse, die Massenbasis stückweise zu verlieren. Adolf Hitler sagte in einem Gespräch mit Paul von Hindenburg auf dessen Frage, warum sich die NSDAP am BVG-Streik beteiligte dies: „Die Leute sind sehr erbittert. Wenn ich von der Beteiligung abgehalten hätte, hätte der Streik doch stattgefunden, aber ich hätte meine Anhänger in der Arbeiterschaft verloren; das wäre auch kein Vorteil für Deutschland.“23 Stampfer log also, um den Kurs des Klassenverrats weiterhin zu rechtfertigen. Stampfer äußerte gegenüber Hermann Matern im Januar 1935, dass der einzige Fehler der SPD gewesen sei, nicht auch noch den Faschismus vollsten mit zu unterstützen24, womit er wohl die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes meinte. Matern sagte über die Linie der SPD: „Das war ihr Kurs: Unter allen Umständen bei der Bourgeoisie bleiben, alles mitmachen und deshalb keinen Schritt gemeinsam mit der Kommunistischen Partei gehen. Sie waren nicht einmal bereit, den Opfern des Faschismus gemeinsam zu helfen.“25 Die sozialfaschistischen Positionen der SPD-Führung traten auch am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zutage, dort sogar am offensten. Stampfer trat für eine „vorübergehende Diktatur der Republikaner“ ein, welche sozialistische Revolutionäre unterdrücken sollte und attestierte dem Faschismus „planwirtschaftliche, fortschrittliche Tendenzen“26. Der SPD-Parteivorstand vertrat die „Totalitarismus“-Theorie, welche sie „Totalitätsidee“ nannte und rechtfertigte damit ihren sozialfaschistischen Kurs27. Die SPD-Führer stellten den Klassenkampf auf eine Stufe mit Rassismus, begingen somit sehr offen Verrat an Kerninhalten des Marxismus28. Die Sichtweise der SPD-Führung im Überblick: Die politische Konzeption in den Artikeln von Friedrich Stampfer, Hilferding, Wels, Sollmann läuft darauf hinaus, daß die Führung im Kampfe gegen den Faschismus der Bourgeoisie gehört. Stampfer behauptet, ´daß Hitler heute viel eher noch unter der Arbeiterklasse Anhänger findet, als unter der Bourgeoisie.´, daß hingegen ´die stolzen rheinischen Unternehmer´, wie Stampfer sich auszudrücken beliebt, sich von Hitler nichts dreinreden ließen. Stampfer rechnet also auch die faschistischen Großkapitalisten, die Hitler an die Regierung brachten, zur Opposition. Diese Orientierung bringt den sozialdemokratischen Vorstand dazu, sich völlig passiv gegenüber dem Kampf der Arbeiter zu verhalten, während er sich gleichzeitig der Bourgeoisie gefällig erweist. Stampfer spricht von den ´fortschrittlichen Tendenzen´ in der faschistischen Wirtschaft, und Sollmann charakterisiert die künftige Demokratie als autoritäre Demokratie, also als halbfaschistisch.“29 Walter Ulbrichts Primärquellen sind Ausgaben des „Neuen Vorwärts“, des Organs des Parteivorstands der SPD im Exil. Das waren nur die aussagekräftigsten Beispiele. Es gab auch schon etwas früher, im Jahre 1937 ein paar weitere Beispiele, die ich hier noch anführen werde: Die SPD stand im Bunde mit Strasser und Brüning: Die rechten Sozialdemokraten, mit Wels an der Spitze, versuchen deshalb, in engere Beziehungen zu Brüning, Treviranus und Muckermann zu kommen, und schicken Strasser zum Kampf gegen die deutsche Volksfront vor. Es ist bekannt, daß Brüning keine demokratische Republik, sondern eine autoritäre Demokratie erstrebt.“30 Man bekämpfte von sozialdemokratischer Seite her hauptsächlich die Kommunistische Partei nach Goebbels-Manier: Otto Bauer müht sich sogar ab, für diese Sabotage der Einheit eine ´Theorie´ zu erfinden. Nach seiner Meinung sei jetzt die Aufgabe der linken Sozialdemokraten nicht in erster Linie, Volksfrontspanien zu helfen und gegen Hitlers Kriegspolitik zu kämpfen, sondern – als ´Zwischenziel´ – vor allem den Bolschewismus zu zersetzen und die kommunistischen Arbeiter für die Sozialdemokratie zu gewinnen. Man sieht, daß die antibolschewistische Hetze von Goebbels bis in die Reihen der Sozialdemokratischen Partei wirkt.“31

Wie man sehen kann, gab es den Sozialfaschismus auch noch kurz vor dem Ausbruch der Zweiten Weltkriegs in der SPD-Spitze. Wie war es danach, während des Krieges? Keineswegs besser. Walter Ulbricht schrieb mal in einem Brief an Franz Dahlem: Die Stellung zur sozialistischen Sowjetunion ist der Maßstab dafür, wer es ernst meint mit dem Kampf gegen die faschistischen Kriegsaggressoren und wer nicht.“32 Die SPD-Führer hingegen sahen die Sowjetunion jedoch auch 1939/40 als Feind an, während man sich auf die Seite des britisch-französischen Imperialismus schlug33. Pieck wies darauf hin, dass diese den Hitlerfaschismus u. a. durch das Münchener Abkommen 1938 haben groß werden lassen, um Hitler durch die Ostexpansion direkt gegen die Sowjetunion zu treiben34. Aufgrund des Scheiterns der Verhandlungen zwischen Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien für einen Vertrag der kollektiven Sicherheit im Sommer 1939, weil Frankreich und Großbritannien daran kein Interesse hatten, schloss die Sowjetunion mit Nazideutschland einen Nichtangriffspakt ab, um sich außenpolitisch zeitweilig abzusichern, in dem Bewusstsein, dass der Vertrag in einigen Monaten von deutscher Seite gebrochen werden würde. Auch Wilhelm Pieck sah im Mai 1940, dass die Nazis es nicht langfristig ehrlich meinten mit den Nichtangriffspakt: „Die gegenwärtige deutsche Regierung hat zwar den Pakt mit der Sowjetunion abgeschlossen, aber ihr Regime bietet keine Garantie für dessen konsequente Durchführung.“35 Die SPD-Führer hingegen schlugen sich zwar nicht direkt auf die Seite der Nazis, aber hetzten dennoch gegen die Sowjetunion und erhofften als Quislinge des französischen und britischen Imperialismus agieren zu können. Hilferding sprach davon, dass man „den Sieg Frankreichs und Englands vorbehaltlos bejahe“36. Stampfer schrieb, dass Russland (womit er die Sowjetunion meint) ein „Riesenreich mit unübersehbaren Entwicklungsmöglichkeiten“ sei und Frankreich und Großbritannien deshalb den Wunsch haben könnten, „daß es eine neue deutsche Republik gerüstet bleibt“37, womit er die Hoffnung eines Überfalls auf die Sowjetunion von britisch-französischer Seite gemeinsam mit einem ihnen hörigen Deutschland hegt. Bei Letzterem machte Hilferding den Regierungen von Norwegen und Schweden Vorwürfe, weil diese den britischen und französischen Truppen kein Durchmarschrecht gaben, damit diese im Winterkrieg hätten intervenieren können38. Dies bezeugt, dass der einzige qualitative Unterschied zwischen der sozialfaschistischen SPD-Führung und den Hitlerfaschisten der Fakt war, dass sich Letztere an der Spitze des bürgerlichen deutschen Staates befanden und Erstere im Exil versauerten. Auch die Hetze gegen die KPD gleicht dieser der Nazis. Curt Geyer schrieb: „Sowenig wie heute in Frankreich eine Kommunistische Partei möglich ist, sowenig wird sie in einem befreiten Deutschland möglich sein.“39 Friedrich Stampfer schrieb dies: „Entbolschewisierung Deutschlands, und zwar so gründlich wie möglich, wird die sozialdemokratische Parole sein.“40 Solche Worte kamen in ähnlicher Weise auch aus Goebbels´ und Hitlers Munde! Das trug natürlich dazu bei, dass die Parteiführung sich zunehmends von der Parteibasis entfremdete, welche gegen ihre Unterdrücker, die Hitlerfaschisten und ihre Hintermänner, kämpfte.

Die historischen Lehren

Was sind die Lehren aus diesem schändlichen Kapitel der Sozialdemokratie? Nach 1945 war in der damaligen SBZ klar: Solche Leute dürfen keinesfalls Leitungspositionen besetzen! Während des Aufbaus des FDGB rief Walter Ulbricht den Gewerkschaftern nochmals ins Gedächtnis, dass die sozialdemokratischen ADGB-Führer am 1. Mai 1933 versuchte „die Mitarbeit im faschistischen Staat zu erreichen“41, sich also den Nazis anzubiedern. Für ihn war klar: „Vor allen Dingen dürfen nicht solche früheren Gewerkschaftsfunktionäre, die zur Teilnahme an der Nazidemonstration am 1. Mai 1933 aufgerufen haben und für die Eingliederung der freien Gewerkschaften in den faschistischen Staatsapparat waren oder nach dem 1. Mai 1933 bei der Übergabe des Gewerkschaftsvermögens mitgeholfen haben, in die Gewerkschaftsleitungen gewählt werden.“42 Walter Ulbricht nennt diese hier zwar nicht namentlich Sozialfaschisten, aber inhaltlich waren es genau diese. Er schrieb in einer Anmerkung zu einem 1929 verfassten Werk aus der Retrospektive der 50er Jahre über den Sozialfaschismus dies hier: Das Verbot der Maidemonstration 1929 sowie die Erschießung von Arbeitern auf Befehl des Berliner sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Zörgiebel, die Tolerierungspolitik der SPD gegenüber der Brüning-Regierung und die Zulassung der faschistischen Mordorganisationen durch die Polizei Severings und der sozialdemokratischen Polizeipräsidenten in verschiedenen Städten – bei gleichzeitigem Verbot des Roten Frontkämpferbundes durch Severing – zeigten besonders deutlich, daß die sozialdemokratische Führung die Reaktion und die faschistischen Kräfte unterstützte. Deshalb wurde die Politik der sozialdemokratischen Führung als sozialfaschistisch charakterisiert. So treffend diese Einschätzung der sozialdemokratischen Führung war, so wurde sie doch mit der Zeit auf die Sozialdemokratie als Partei angewandt, wodurch sich die sozialdemokratischen Werktätigen getroffen fühlten.“43 Ulbricht bezeichnet die Einschätzung der SPD-Führung als sozialfaschistisch als „treffend“ und kritisiert lediglich die mechanische Übertragung auf die Parteibasis. Der Sozialfaschismus entspringt also den Machenschaften der Arbeiteraristokratie, auf Anweisung der Bourgeoisie.

Das bedeutet auch, dass der Sozialfaschismus seinen Nährboden im Opportunismus hat und jederzeit dort auftreten kann, wo es opportunistische Entartungen gibt. So ist es auch heute. Wenn SPD oder PdL beispielsweise die Wiedereinführung der Schutzhaft unterstützen, so ist das ein Ausdruck von Sozialfaschismus. Die SPD, welche mit der CDU in Sachsen regiert, stimmte für eine militärartige Aufrüstung der Polizei mit MGs und Granaten44. Auch das ist eine sozialfaschistische Tat. Das sind ähnliche Maßnahmen, wie sie die SPD in der Weimarer Zeit traf, um im Gleichschritt mit Brüning und Konsorten die Faschisierung durchzudrücken, gegen die Interessen des werktätigen Volkes. Man darf sich dabei aber keinesfalls auf die SPD versteifen, sondern muss bei jeder sich sozialistisch bezeichnenden Organisation diesen Anspruch mit der Wirklichkeit abgleichen und offen aussprechen, wenn diese unter dem Strich Lakaien der Bourgeoisie sind, die faschistische Maßnahmen unterstützen. Man darf also weder übertreiben, aber genauso wenig verharmlosen.

1Vgl. Wilhelm Pieck „Gesammelte Reden und Schriften“, Bd. IV, Dietz Verlag, Berlin 1981, S. 568/569, Anmerkung 29.

2Vgl. Ebenda, S. 569/570, Anmerkung 32.

3Franz Dahlem „Ausgewählte Reden und Aufsätze 1919 – 1979“, Dietz Verlag, Berlin 1980, S. 98/99, Anmerkung 8.

4Vgl. „Der neue Weg zum gemeinsamen Kampf für den Sturz der Hitlerdiktatur“ (4. Oktober 1935) In: Wilhelm Pieck „Gesammelte Reden und Schriften“, Bd. V, Dietz Verlag, Berlin 1972, S. 183.

5Vgl. Ebenda, S. 169.

6Siehe: Ebenda, S. 179/180. Wilhelm Pieck sagt dort, dass der „von der SPD seit 1914 eingeschlagene Weg die Arbeiterklasse ins Verderben geführt und dem Faschismus den Weg bereitet hat.“

7Ebenda, S. 187.

8„Zur Strategie und Taktik von SPD und KPD in der Weimarer Republik“ In: Kurt Gossweiler „Wie konnte das geschehen?“, Bd. II, KPD/Offen-siv, Bodenfelde 2017, S. 43.

9Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht – Vorkämpfer für den Frieden“ (15. Januar 1949) In: Walter Ulbricht „Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, Bd. III Zusatzband, Dietz Verlag, Berlin 1971, S. 629/630.

10„Nicht Faschismus, auch nicht Demokratie der Reichen, sondern die Herrschaft der Arbeiter und Bauern, die Sowjetdemokratie“ (27. April 1933) In: Klement Gottwald „Ausgewählte Reden und Aufsätze“, Dietz Verlag, Berlin 1955, S. 134/135.

11Vgl. „Die Stunde der RGO“ (25. Oktober 1930) In: Franz Dahlem „Ausgewählte Reden und Aufsätze 1919 – 1979“, Dietz Verlag, Berlin 1980, S. 93.

12„Die braune Pest“ (1. Juli 1930) In: Wilhelm Pieck „Gesammelte Reden und Schriften“, Bd. IV, Dietz Verlag, Berlin 1981, S. 312.

13Thälmanns Abrechnung mit den Nazis“ (1. März 1931) In: Ernst Thälmann „Reden und Aufsätze 1930 – 1933“, Bd. I, Verlag Rote Fahne, Köln 1975, S. 140.

14Diese Theorie wird auf einen Ausspruch Stalins zurückgeführt, in welchem er sagte, dass „Ultralinke“ und Rechte Zwillingsbrüder seien. Dieser bezieht sich jedoch inhaltlich nicht auf Faschismus und Sozialdemokratie, sondern „linke“ und rechte Abweichungen von der Parteilinie. Siehe: „Über den Kampf gegen die rechten und ´ultralinken´ Abweichungen“ (22. Januar 1926) In: J. W. Stalin „Werke“, Bd. 8, Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 7.

15Siehe: „Die Stunde der RGO“ (25. Oktober 1930) In: Franz Dahlem „Ausgewählte Reden und Aufsätze 1919 – 1979“, Dietz Verlag, Berlin 1980, S. 92.

16Vgl. „Der neue Weg zum gemeinsamen Kampf für den Sturz der Hitlerdiktatur“ (4. Oktober 1935) In: Wilhelm Pieck „Gesammelte Reden und Schriften“, Bd. V, Dietz Verlag, Berlin 1972, S. 181/182.

17Vgl. „Die Veränderungen in den Klassenkräften und im Denken der verschiedenen Schichten der Bevölkerung während der faschistischen Herrschaft“ (Frühjahr 1944) In: Walter Ulbricht „Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, Bd. II, Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 321.

18Siehe: Hermann Matern „Im Kampf für Frieden, Demokratie und Sozialismus“, Bd. I, Dietz Verlag, Berlin 1963, S. 574, Anmerkung 23.

19„Warum konnte der Faschismus in Deutschland siegen?“ (27. Juli 1935) In: Franz Dahlem „Ausgewählte Reden und Aufsätze 1919 – 1979“, Dietz Verlag, Berlin 1980, S. 141.

20Siehe: „Um die Einheitsfront in Deutschland“ (31. März 1936) In: Walter Ulbricht „Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, Bd. II Zusatzband, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 37.

21Siehe: Ebenda, S. 42.

22Siehe: „Berichte über Besprechungen mit Friedrich Stampfer, Rudolf Hilferding und Siegfried Aufhäuser“ (27. Mai 1936) In: Ebenda, Bd. II 2. Zusatzband, Dietz Verlag, Berlin 1968, S. 58.

23„Aufzeichnungen über die Besprechung des Herrn Reichspräsidenten mit Herrn Adolf Hitler am Sonnabend, dem 19. November 1932, 11.30 Uhr“ In: Kurt Gossweiler „Aufsätze zum Faschismus“, Akademie-Verlag, Berlin 1988, S. 68.

24Siehe: Wie die sozialdemokratischen Führer dem Faschismus zur Macht verhalfen“ (7. Februar 1953) In: Hermann Matern „Im Kampf für Frieden, Demokratie und Sozialismus“, Bd. I, Dietz Verlag, Berlin 1963, S. 397.

25Ebenda.

26Vgl. „Fragen der Einheitsfront in Deutschland“ (26. August 1939) In: Walter Ulbricht „Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, Bd. II 2. Zusatzband, Dietz Verlag, Berlin 1968, S. 206/207.

27Siehe: Ebenda, S. 206.

28Siehe dazu bspw.: „Marx an Joseph Weydemeyer in New York“ (5. März 1852) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Ausgewählte Werke in sechs Bänden“, Bd. II, Dietz Verlag, Berlin 1974, S. 523. Marx spricht dort von der Notwendigkeit des Klassenkampfes und der Diktatur des Proletariats.

29 „Wie steht es mit der Einheit zum Sturze Hitlers?“ (27. August 1939) In: Walter Ulbricht „Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, Bd. II 2. Zusatzband, Dietz Verlag, Berlin 1968, S. 210.

30 „Brief an Heinrich Mann zur Volksfrontpolitik“ (25. Mai 1937) In: Ebenda, S. 91.

31 „Hitlers Kriegsprovokationen und die Einigung der deutschen Arbeiterklasse“ (August 1937) In: Ebenda, S. 113/114.

32„Brief an Franz Dahlem“ (4. Juni 1939) In: Ebenda, S. 194.

33Siehe: „Die werktätigen Massen Deutschlands wollen Frieden, Freiheit und Brot!“ (7. Mai 1940) In: Wilhelm Pieck „Gesammelte Reden und Schriften“, Bd. VI, Dietz Verlag, Berlin 1979, S. 57.

34Vgl. Ebenda, S. 60.

35Ebenda, S. 57.

36Vgl. Ebenda, S. 58.

37Vgl. Ebenda.

38Vgl. Ebenda, S. 62.

39Zit. nach: Ebenda, S. 58/59.

40Zit. nach: Ebenda, S. 59.

41Vgl. „Der Kampf um Demokratie und die Rolle der Gewerkschaften“ (12. Dezember 1945) In: Walter Ulbricht „Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, Bd. II Zusatzband, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 311.

42„Die Gewerkschaftswahlen und die Aufgaben der Gewerkschaftsmitglieder beim demokratischen Wirtschaftsaufbau“ (19. November 1945) In: Ebenda, S. 289.

43Anmerkung des Verfassern zu „Die Aktivierung und Überprüfung des Mitgliederbestandes unserer Partei“ (27. November 1929) In: Ebenda, Bd. I, Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 455.

//