Wozu braucht der Sozialismus allseitig gebildete Menschen?

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Das bürgerliche Bildungssystem hat ein großes Problem: Es vermittelt Inhalte, die eher zum reinen Ausführer machen, der von Gesamtzusammenhängen nichts versteht. So sind die Naturwissenschaften in den Schulfächern so aufgeteilt, dass man deren Verknüpfungen gar nicht versteht. Wissen wird kaum anhand von praktischen Beispielen vermittelt, wenn, dann noch am ehesten in den Experimenten des Chemieunterrichts; stattdessen versucht man viel Bücherwissen in junge Köpfe hineinzupressen, die zu solchen Abstraktionen kaum fähig sind, weil eben die Praxis fehlt. Mehr Wert wird offensichtlich auf die Fächer gelegt zu werden, die soziologischen Inhalt besitzen. Geschichte aus Sicht der Bourgeoisie, Wirtschaft aus Sicht der Bourgeoisie, Politik und Gesellschaft aus Sicht der Bourgeoisie, sowie bürgerliche Philosophie. Wirtschaft von Keynes, Philosophie von Kant und dazu ein Potpourri an Halbwahrheiten und Unwahrheiten zu den verschiedensten Themen. Maxim Gorki schrieb einmal: Der Kapitalismus hat die geistige Entwicklung der Menschen der Arbeit nur insoweit gefördert, als dies für den Erfolg der Industrie und des Handels notwendig und vorteilhaft war. Der Kapitalismus braucht den Menschen nur als mehr oder minder billige Arbeitskraft und als Verteidiger des bestehenden Systems.“1 Man könnte meinen, dass er ein Zeitgenosse wäre. Das zeigt, dass die kapitalistische Gesellschaft sich nicht weiterentwickelt hat im Kern, lediglich die Produktivkräfte sind fortgeschrittener.

Aber nun zurück zur Titelfrage: Warum braucht eine sozialistische Gesellschaft allseitig gebildete Menschen? Damit sie möglichst viel von der Umwelt verstehen und daraus Schlüsse ziehen können für die Praxis. Wenn man nicht weiß, woher die Probleme kommen, wie will man sie dann lösen? Einzelne, wie die bürgerliche Gesellschaft belegt, kommen trotz aller widrigen Umstände zu richtigen Erkenntnissen. Die Masse der Menschen hingegen wird von der bürgerlichen Bewusstseinsbildung mitgespült, lebt in einem obskurantistischen Zustand. Aufgrund des mangelnden populärwissenschaftlichen Wissens über Naturwissenschaften, so zum Beispiel die Negation der biologischen Existenz der Geschlechter, könnte man behaupten, der politische Obskurantismus durch die Bourgeoisie ginge einher mit dem Obskurantismus auf wissenschaftlichem Gebiet. Das bürgerliche Bildungssystem vermittelt nicht die Wahrheit an sich, sondern lediglich Bruchstücke und diese auch noch voneinander getrennt, als hätten die miteinander nichts zu tun. Paulo Freire kritisierte das scharf als die „Bankiersmethode“ in der Bildung, bei der Schüler mit Wissen vollgestopft werden, mit dem sie praktisch nichts anfangen können, es von ihrem Leben viel zu abstrakt ist2. Außerdem werden dabei die Vorkenntnisse der Schüler ignoriert, sie alle für „unwissend“ erklärt, während der Lehrer „alles weiß“3, was auch in Deutschland trotz des PISA-Schocks noch allzu häufig der Fall ist. Natürlich muss man bei der Massenbeschulung Abstriche machen, was die individuelle Förderung betrifft. Aber man sollte nicht, wie die bürgerliche Schule, von „individueller Förderung“ reden, während das System dazu keinerlei Raum und Mittel bietet, die diese Förderung garantieren könnten. Somit kommt es zu Überforderung auf der einen und Unterforderung auf der anderen Seite. Hinzu kommt noch die Praxisferne. Diese Methode ist dem bürgerlichen Schulsystem zu eigen, dem deutschen ganz besonders. Martin Andersen Nexö brachte es prosaisch auf den Punkt, als er sagte, dass „die Schule in erster Linie nicht eine Erziehungsanstalt für Menschen sei, sondern eine Stutzmaschine, ein Apparat, der alles Lebendige schluckt in dem Maße, wie es heranwächst, und es als Automaten wieder ausspeit.“4 Es war eine Kritik am kaiserlichen Schulsystem, aber dieses hat sich bis heute nur wenig verändert, wie das Weiterbestehen des dreigliedrigen Schulsystems bezeugt. Antonio Gramsci übte auf ähnliche Weise Kritik, wie Paulo Freire: „Man muß sich abgewöhnen, die Kultur als enzyklopädisches Wissen zu begreifen, wobei der Mensch nur wie ein Gefäß betrachtet wird, das mit empirischen Daten und rohen, unzusammenhängenden Fakten anzufüllen ist; er muß sie in seinem Gehirn wie in den Spalten eines Wörterbuchs anordnen, um dann bei jeder Gelegenheit auf die verschiedenen Reize der Außenwelt reagieren zu können. Diese Form der Kultur ist wahrhaft schädlich, besonders für das Proletariat. Die Folge davon sind verschrobene Leute, die sich der übrigen Menschheit überlegen dünken, weil sie in ihrem Gedächtnis eine gewisse Anzahl von Daten aufgehäuft haben, die sie bei jeder Gelegenheit vor sich herplappern, um so nachgerade eine Mauer zwischen sich und den anderen aufzurichten.“5 Natürlich soll damit nicht negiert werden, dass man sich überhaupt Wissen aneignet, aber es wird von Gramsci kritisiert, dass man zusammenhanglos Wissen aneignet und dieses nur rezitieren kann, wie beim auswendig lernen von Gedichten im Deutschunterricht, aber damit nichts anfangen kann, indem man es in einen größeren Zusammenhang setzt. Aber genau das tut das bürgerliche Schulsystem und dabei kommen solche Pseudointellektuellen heraus, die zwar einen akademischen Abschluss besitzen, aber dennoch von der Welt nichts verstehen; die zwar ganze Lehrbücher aus dem Kopf auswendig von Seite A bis Z aufsagen können, aber inhaltlich kein tiefergehendes Verständnis besitzen.

Paulo Freire sah es als einen Fehler an, wenn sozialistische Länder einfach die bürgerlichen Schulmethoden übernahmen, weil die Form der Wissensvermittlung eben auch eine Rolle spielt6. Wichtig ist eine dialektisch-materialistische Präsentation von Wissen. Was hat das zu bedeuten? Man muss zum einen Tatsachen darstellen, aber zum anderen auch die Verknüpfungen von Erkenntnissen aufzeigen und was daraus folgt. Das fehlt aber in den bürgerlichen Schulen, es ist sogar nicht mal gewollt. Könnten die heutigen Schüler eins und eins zusammenzählen, dann würde die Herrschaft der Bourgeoisie mehr ins Wanken geraten, denn sie lässt sich nur mit Wirtschaftsesoterik a la John Maynard Keynes und Geschichtsverfälschung a la Robert Conquest aufrechterhalten. Das ist eine Form der ideologischen Hegemonie, betrifft die bürgerliche Ideologie, ist aber keine Bildung in dem Sinne, dass dabei richtige Erkenntnisse vermittelt werden würden. Es ist wie beim Versuch Max Webers vor einem Jahrhundert, im Protestantismus die Quelle des Kapitalismus zu sehen7. Sowas ist natürlich eine Verdrehung von Ursache und Wirkung. Walter Ulbricht schrieb im Januar 1914 in seinem Aufsatz „Die Triebkräfte der deutschen Reformation“ über die Abhandlung des Themas durch bürgerliche Historiker: „Die materiellen Interessen, die in dieser Bewegung eine hervorragende Rolle spielen, werden nur im Vorübergehen gestreift.“8 Die bürgerliche Historie hat die Neigung, geschichtliche Bewegungen auf Ideen und nicht die Ideen auf materielle Veränderungen zurückzuführen. Daher rühren auch solche idealistischen Konzepte wie die „Willensnation“, die „Staatsbürgernation“ und ähnliches, mit denen sich bloß die Unfähigkeit zeigt, die nationale Frage auf der Grundlage einer idealistischen Weltanschauung zu lösen. Jedenfalls legte Engels dar, wie die Bourgeoisie unter den Bedingungen des Feudalismus heranreifte9, aufgrund von objektiven Entwicklungen und keinem „plötzlichen Geistesblitz“, der sich in der Reformation ausgedrückt haben soll. Stattdessen war die Reformation eine Folge aus den sozioökonomischen Verhältnissen, wie besonders die Bauernkriege bei näherer Betrachtung klarmachen. Bei der bürgerlichen Darstellung von Ökonomik, Geschichte, Gesellschaft und Politik handelt es sich nicht um eine Erklärung, sondern um eine Verklärung der materiellen Verhältnisse. Sowas können wir natürlich nicht unterstützen, auch im Sozialismus nicht. Die Wahrheit ist auf unserer Seite, nicht die Demagogie. Wozu benötigten die Revisionisten so sehr der demagogischen Verschleierung ihrer Marktreformen und Abbau der sozialistischen Demokratie pseudomarxistischer Worthülsen? Weil sie ihre wahren Absichten vor den Massen verschleiern mussten, um sich nicht vor jedermann zu diskreditieren. Man kann deshalb sagen:

Der Marxismus ist die konsequenteste Manifestation von Bildung, denn er setzt die objektive Realität als Grundlage, aus der Schlüsse zu ziehen sind. Allzu häufig wird der Marxismus bloß als auf Soziologie und Politik anwendbar verstanden. Dieses Missverständnis kommt wohl daher, dass die Naturwissenschaften als etwas abgesondertes betrachtet werden. Eine solche Sichtweise ist aber inkorrekt. Der dialektische Materialismus ist auch auf die Naturwissenschaften anwendbar, wie Friedrich Engels in seiner „Dialektik der Natur“ nachwies. Auch Gerhard Harig erwies er bei seinen Untersuchungen im Bereich der Physik10 seine Dienste. Er ging auch so weit zu sagen, dass die idealistische Weltanschauung das deutsche Volk geistig schwach gemacht hat gegenüber esoterischen Anschauungen, wie der Rassentheorie des Hitlerfaschismus, weshalb man den dialektischen Materialismus, den philosophischen Kern des Marxismus, vermehrt lehren müsse11. Was macht die wissenschaftlichen Fachfelder des Marxismus aus?

Stalin definierte die Fachbereiche, die der Marxismus umfasst, folgendermaßen: „Der Marxismus ist die Wissenschaft von den Entwicklungsgesetzen der Natur und der Gesellschaft, die Wissenschaft von der Revolution der unterdrückten und ausgebeuteten Massen, die Wissenschaft vom Siege des Sozialismus in allen Ländern, die Wissenschaft vom Aufbau der kommunistischen Gesellschaft.“12 Die Reihenfolge der Aufzählung scheint nicht zufällig gewählt worden zu sein. Das Primäre ist die Erkennbarkeit der von Natur und Gesellschaft und die Aufdeckung ihrer Gesetzesmäßigkeiten, daraus folgt die Notwendigkeit des Sozialismus und des Kommunismus. Der Marxismus mag zwar hauptsächlich als eine Geisteswissenschaft betrachtet werden, aber er ist mehr als das. Mao Tsetung sagte im Februar 1940: „Der Marxismus beinhaltet die Naturwissenschaft und jeder sollte anfangen, die Naturwissenschaft zu studieren. Ansonsten kann man nicht als hervorragender Revolutionär bezeichnet werden, da es so viele Dinge in dieser Welt gibt, die man nicht versteht.“13 Auch wenn man sich bemüht, möglichst von allen wissenschaftlichen Disziplinen wenigstens die wichtigsten Lehren sich anzueignen, so wird man doch nie ganz fertig werden. Dennoch muss man versuchen so vollständig wie möglich einen konkreten Sachverhalt an sich, sowie die objektive Realität im Allgemeinen zu begreifen14. Wenn man das nicht versuchen würde, so käme man in der Entwicklung nicht weiter, weil man vor der Größe der Aufgaben zurückschreckt. Je mehr man weiß, desto mehr Wissen kann man verknüpfen. Daraus folgen unter Einbeziehung neuer praktischer Erfahrungen neue Schlüsse. Mao Tsetung hat deshalb recht, wenn er sagt: „Die Geschichte der Dinge ist unendlich und die Beziehung zwischen Dingen ist unendlich. Ihre Eigenschaften sind folglich unendlich. Die übliche ´komplette Erklärung´ einer Sache ist tatsächlich eher eine beschränkte Erklärung von bestimmten Teilen, bestimmten Fragmenten.“15 Das mag sehr allgemein klingen, aber es ist eine Tatsache. Immer, wenn man glaubte, weiter könne man sich nicht entwickeln, wie utopische Zukunftsvorstellungen vergangener Zeiten bezeugen, wie sich eine „perfekte Gesellschaft“ vorgestellt wurde, so warfen die sozioökonomischen Verhältnisse samt ihrer technischen Entwicklung diese Konzepte über den Haufen. Aus eben solchen Gründen sagte Stalin: „Der Marxismus ist ein Feind jeglichen Dogmatismus.“16 Das heißt aber nicht, dass auf einmal Tatsachen aufhören würden zu bestehen, wie die Existenz der Schwerkraft als Naturgesetz oder die Notwendigkeit der Planwirtschaft im Sozialismus und Kommunismus, sondern eher eine Erweiterung des Wissensschatzes, der zu einer weiteren Präzisierung von Methoden führt, seien sie nun technisch oder soziologisch. Deshalb braucht der Sozialismus allseitig gebildete Menschen, damit sie befähigt sind, nach neuen Höhen der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung zu streben, aktive Schrittmacher einer neuen Epoche der Menschheitsgeschichte zu sein, die auch etwas von dem Geschehen in der Welt und Umwelt verstehen.

1Antwort an einen Intellektuellen“ (1931) In: M. Gorki „Aufsätze und Pamphlete“, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1950, S. 254.

2Siehe: Paulo Freire „Pädagogik der Unterdrückten“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 57.

3Vgl. Ebenda, S. 58.

4Das ´deutsche Wesen´ von neuem!“ (16. Juli 1918) In: Martin Andersen Nexö „Reiseschilderungen“, Dietz Verlag, Berlin 1956, S. 356.

5Sozialismus und Kultur“ (29. Januar 1916) In: Antonio Gramsci „Philosophie der Praxis – Eine Auswahl“, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1967, S. 21.

8Zit. nach: Heinz Voßke „Walter Ulbricht – Biographischer Abriß“, Dietz Verlag, Berlin 1983, S. 35, Faksimile.

9Siehe: Friedrich Engels „Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie“ (1884) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 21, Dietz Verlag, Berlin 1962, S. 392 ff.

10Siehe bspw.: „Lenin und die moderne Physik“ (1934) In: Gerhard Harig „Ausgewählte philosophische Schriften“, Karl-Marx-Universität, Leipzig 1973, S. 15 ff.

11Siehe: „Die Erkenntnistheorie des Marxismus“ (22. Oktober 1945) In: Ebenda, S. 72.

12Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft“ (Juni/Juli 1950) In: J. W. Stalin „Werke“, Bd. 15, Verlag Roter Morgen, Dortmund 1979, S. 225.

13Rede in der Gründungsversammlung der Gesellschaft für naturwissenschaftliche Forschung im Shaanxi-Gansu-Ningxia-Grenzgebiet“ (5. Februar 1940) In: „Mao´s Road to Power“, Vol. VII, M. E. Sharpe, Armonk (New York)/London 2005, S. 409, Englisch.

14Siehe: Noch einmal über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler der Genossen Trotzki und Bucharin“ (25. Januar 1921) In: W. I. Lenin „Werke“, Bd. 32, Dietz Verlag, Berlin 1982, S. 85. Lenin sagt dort: Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und ´Vermittelungen´ erfassen und erforschen. Wir werden das niemals vollständig erreichen, die Förderung der Allseitigkeit wird uns aber vor Fehlern und vor Erstarrung bewahren.“

15Über grundlegende menschliche Eigenschaften und andere Dinge“ (17. Dezember 1943) In: „Mao´s Road to Power“, Vol. VIII, Routledge, London 2015, S. 474, Englisch.

16Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft“ (Juni/Juli 1950) In: J. W. Stalin „Werke“, Bd. 15, Verlag Roter Morgen, Dortmund 1979, S. 225.

 

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