Der Kampf um die 35-Stunden-Woche – Das Wiedererwachen der Gewerkschaften

Noch vor genau einem Jahr hätte ich nicht gedacht, dass die Gewerkschaften so sehr zum Leben erwachen würden1. Durch die aktuellen Streikwellen hat Verdi es sogar geschafft, erstmals seit ihrem Zusammenschluss im Jahre 2001 mehr Eintritte als Austritte zu verzeichnen. 193.000 Neumitglieder stehen laut Verdi 153.000 Abgängen gegenüber; das letzte Mal, als so eine Eintrittswelle bestanden haben soll, stritt man in den 80ern um die Einführung der 35-Stunden-Woche2. Um diese kämpft aber derzeit vor allem die GDL in den Bahnbetrieben.

Es ist als Pendler kaum zu übersehen und selbst als Autofahrer kaum in den Nachrichten zu überhören, dass die GDL sich seit einem halben Jahr praktisch im Dauerstreik befindet. Grund ist, dass die Deutsche Bahn die 35-Stunden-Woche, die die Kernforderung der GDL schlechthin darstellt, nicht annehmen will. Das letzte Angebot lag bei 36 Stunden pro Woche3.

Verdi hat bei lokalen Verkehrsbetrieben gewissermaßen „Trittbrettfahrerstreiks“ begonnen, die aber deutlich hinter den Forderungen der GDL zurückliegen, obwohl Verdi eigentlich die deutlich größere Gewerkschaft ist. Gefordert wird von ihnen eine 37-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich4. Frankfurter Rundschau5 und T-Online6 sehen in Weselskys Forderungen die Möglichkeit, den Beruf des Lokführers, der ein Jahresgehalt hat, das unter dem eines Krankenpflegers liegt, attraktiver zu machen. Der Streikkampf ist berechtigt, auch wenn er Pendlern auf die Nerven gehen mag.

Bodo Ramelow, der schon einige Male an Schlichtungen beteiligt gewesen ist, gibt der Bahnführung die Schuld am jetzigen Zustand, weil sie versuchen würde, die GDL organisatorisch zu zerstören7. Hintergrund dafür ist, dass die Deutsche Bahn sich seit Jahren weitestmöglich verweigert, die GDL als Tarifpartnergewerkschaft anzuerkennen. Der Ökonom Claus Schnabel sagte gegenüber ntv: Ein komplettes Nachgeben bei allen Forderungen wäre ein Dammbruch – eine Art Einladung an alle Gewerkschaften, künftig ebenso radikal aufzutreten.“8 Er sieht das Nachgeben in allen Forderungen als negativ an. Auf Nachfrage erklärte er aber, dass die GDL eben am längeren Hebel sitzt und sie „schon gewonnen“ habe mit ihrer kompromisslosen Haltung. Es ist offensichtlich, dass Liberale keine Fans sind von ökonomischen Siegen der Arbeiter. Arno Luik merkte gegenüber der Frankfurter Rundschau: „Weselsky ist Mitglied der CDU, kein Klassenkämpfer. Er tut einfach das, was seine Aufgabe als Gewerkschaftsführer ist: Er setzt sich für seine Mitglieder ein.“9 Aber eben damit, als Gewerkschaftsführer, der kompromisslos für die Interessen seiner Gewerkschaftsmitglieder eintritt, ist Weselsky, ob beabsichtigt oder nicht, durchaus Klassenkämpfer.

Meine sozialdemokratischen Familienmitglieder werfen Weselky „Narzissmus“ vor und wollen auch nach Erklärung nicht verstehen, dass die 35-Stunden-Woche das erklärte Primärziel des Streiks ist. So denken rechte Sozialdemokraten an der Basis. Eine derartige Sichtweise existiert aber auch im SPD-dominierten DGB. Bernhard Stiedl, Chef des DGB in Bayern, wirft Weselsky eine „Persönlichkeitsneurose“ vor und stellt die Behauptung auf, dass die GDL „dem Image der Gewerkschaften schaden“ würde10. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Die Gewerkschaften werden derzeit lediglich den Kapitalisten lästig und ihre politischen Vertreter fordern eine „Verschärfung des Streikrechts“, so allem voran die FDP11 und die CDU12. Die taz nannte das eine „Bankrotterklärung“ der Liberalen, die sich doch sonst für „Freiheit“ einsetzen würden und sie würden damit zeigen, um wessen „Freiheit“ es dabei wirklich ginge – jedenfalls nicht die der Beschäftigten13. Man kann ersehen, dass in diesem Land es sofort Rufe nach Einschränkungen gibt, wenn jemand von seinen Rechten Gebrauch macht.

Über Gewerkschafter wie Stiedl lässt sich nur sagen: Die DGB-Gewerkschaftsbonzen bekommen ihr Geld vom Apparat, auch wenn ihre Gewerkschaften nichts für die Arbeiter erreichen. Die einzige Quittung, die sich in den vergangenen Jahrzehnten bekamen, war eine Halbierung der Mitgliederzahlen. Dieser Trend hat sich im vergangenen Jahr umgekehrt, aber nicht wegen Leuten wie Stiedl, sondern trotz ihnen. Wenn die GDL erfolgreich sein sollte, stellt dies in Frage, was die DGB-Gewerkschaft EVG all die Jahre über gemacht hat.

Weselsky ist CDU-Mitglied und dennoch, ironischerweise, kämpferischer als die DGB-Gewerkschaft EVG. Im September 2020 schloss die EVG mit der Bahn eine Entgelterhöhung von 1,5% ab dem 1. Januar 2022 ab, was die GDL als „miesen Abschluss“ bezeichnete14. Vor solch einem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass die GDL gegen die EVG polemisiert, dass ihr Kürzel für „Einkommensverhinderungsgewerkschaft“ stehen würde15. Daran erkennt man, dass es falsch ist, die DGB-Gewerkschaften pauschal als DIE Gewerkschaften in Deutschland anzusehen, nur weil ihre SPD-Nähe als „links“ gewertet wird. Die DGB-Gewerkschaften waren schon von ihrer Gründungszeit an rechtsopportunistisch. Christian Fette, ehemaliger DGB-Vorsitzender, wetterte 1951 gegen links: „Nicht diejenige Gewerkschaft – merkt es Euch, Freunde von links! –, die am meisten streikt, hat die besten Lohn- und Arbeitsbedingungen, sondern diejenige Gewerkschaft, die Rückgrat an Organisation und Pulver hat, weil man mit dieser keinen Streik aufnimmt.“16 Sogar der DGB-nahe Autor Heiner Dribbusch merkte im Anschluss an das Zitat an, dass die „tarifpolitische Wirklichkeit“ sich doch als „komplizierter“ erwiesen habe als wie Fette dachte. Man kann daran erkennen, dass man von Anfang an im DGB mehr auf die Gewerkschaftsbürokratie gesetzt hat als auf Arbeitskampf. Dabei ist der Arbeitskampf das einzige, was die Arbeiterklasse tun kann, um ihren Stand im Kapitalismus zu verbessern. Bettelbriefe wie die einer Bettina von Arnim an die Obrigkeit hatten nie Wirkung.

2023 stiegen die Tariflöhne zwar um durchschnittlich 5,5%, inflationsbereinigt bedeutete dies aber noch immer einen Reallohnverlust von 0,4%17. Zuzüglich einiger weiterer Faktoren wie etwa Steuererleichterungen betrug die Reallohnentwicklung +0,1% im Jahre 2023, stagnierte also. Mit Tarifabschlüssen rennt man lediglich der Inflation hinterher. Über geforderte Lohnerhöhungen zu sprechen, die faktisch bloße Nominallohnangleichungen an die gestiegenen Preise, ist in diesem Fall nebensächlich. Jeder erkämpfte Cent, den man nominal mehr bekommt, verliert man bereits nach wenigen Monaten an die Inflation. Was langfristig bleibt, sind Siege auf dem Gebiet der Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen18.

Letztendlich sind Streiks, auch wenn die Kapitalisten und ihre Politiker offensichtlich nicht anerkennen wollen, gewissermaßen systemstabilisierend. Heiner Dribbusch beschreibt das so:

Streiks als solche stellen die gegenwärtigen Verhältnisse nicht infrage. Sie sind Mittel der Interessendurchsetzung, verlassen in aller Regel den vorgegebenen rechtlichen Rahmen nicht und zielen ganz überwiegend auf den Abschluss von Tarifverträgen. […] Indem Arbeitskämpfe die geordnete Austragung von Konflikten erlauben, stabilisieren sie das Tarifsystem, ohne die den existierenden Interessengegensätzen zu Grunde liegenden Verhältnisse infrage zu stellen.“19

Grundsätzlich ändern Streiks also nichts. Das kann nur, wie Karl Marx sagte, die Abschaffung des Lohnsystems. Diese sah er als das Endziel des gewerkschaftlichen Kampfes20.

14 Vgl. Heiner Dribbusch „Streik – Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000“, VSA Verlag, Hamburg 2023, S. 208.

15 Vgl. Ebenda, S. 207.

16 Zit. nach: Ebenda, S. 313.

18 Vgl. Heiner Dribbusch „Streik – Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000“, VSA Verlag, Hamburg 2023, S. 348.

19 Ebenda, S. 347.

20 Siehe: Karl Marx „Lohn, Preis und Profit“ (Mai/Juni 1865) In: Karl Marx/Friedrich Engels „Werke“, Bd. 16, Dietz Verlag, Berlin 1962, S. 152.

//