Intellektuelle als Fehlwirte – Ein alltägliches Problem der marxistischen Ideologie

Die marxistische Ideologie wurde 1989/90 für tot erklärt. Dies geschah nicht nur in der westlichen Presselandschaft, diese versuchte den Marxismus schon die ganze Zeit über für tot zu erklären. Auch die sowjetrevisionistischen Theoretiker im Endstadium erklärten ihn für tot.

Von Alexander Zipko wurde behauptet: „Es hat überhaupt keinen russischen Marxismus gegeben.“1 Man behauptete, dass der Marxismus buchstäblich nur aus Marx und Engels bestehen würde. Damit wurde Lenin preisgegeben. Zipko übernahm von Trotzki unwidersprochen die Behauptung, dass Marx sozusagen ein reiner Theoretiker und Lenin ein reiner Praktiker gewesen sei2. Auch stimmte er einer Kritik Bernsteins an Kautsky zu3.

Wischnjakow behauptete: „Die historische Entwicklung des Marxismus ist voller Verkehrtheiten.“4 Eine solche Einschätzung stellt eine vollkommene Ablehnung des Marxismus dar. Samalejew warf dem Marxismus vor, ohne Moral zu sein, was er aber auf dessen Hervorgehen aus der bürgerlichen Gesellschaft zurückführt5 und stellt die Behauptung auf, dass die russische Philosophie im Gegensatz zum Marxismus Zukunft hätte6.

Abgesehen davon wurden Stalin nun nicht bloß die Chruschtschowschen Vorwürfe entgegengeschleudert, sondern wurde er als „totalitär“ betitelt7. Es gab aber auch die Ansicht, dass der „Totalitarismus“ in der Sowjetunion sich seit der Breshnew-Ära „in Auflösung“ befunden hätte8. Wie dem auch sei, die Übernahme des bürgerlichen „Totalitarismus“-Begriffs zeigt deutlich, wie tief das ideologische Niveau in der Sowjetunion am Ende der Gorbatschow-Ära lag.

Es ist klar, dass diese sowjetrevisionistischen Theoretiker keine Menschen aus der Arbeiterklasse gewesen sind, außer vielleicht der soziologischen Herkunft her, sondern Intellektuelle. Für sie waren die ideologischen Probleme des Marxismus nie von akuter Bedeutung für ihr Leben, sondern abstrakte Fragen, die an einem Schreibtisch in der Studierstube abgehandelt worden sind. Entsprechend lebensfremd sind die Ergebnisse geworden.

Plutarch beschrieb, wie sich die Schule des Mnesiphilos von einer praktischen Schule der Staatskunde und Politik, in welcher Themistokles lernte, durch dessen Schüler in eine Schule der „spitzfindigen Redekünste“ degeneriert worden ist9. Ähnlich erging es dem Marxismus, nachdem er in die Hände von eigentlich bürgerlichen Intellektuellen gelangt war. Diese ideologische Degeneration, die man in der späten Sowjetunion klar ersehen konnte, gab es im Westen bereits früher, unter anderem in Form der Frankfurter Schule. Entsprechend schrieb Rudi Dutschke als „westlicher Marxist“ schon im August 1964: „Die Rehabilitierung der besten Söhne der Revolution (Trotzki, Bucharin, Radek usw.) wäre der erste Schritt zur Überwindung der stalinistischen Auswüchse.“10 Dies sollte unter Gorbatschow Ende der 80er Jahre geschehen. Damals wurden alle Revisionisten außer Trotzki selbst rehabilitiert. Der ideologische Degenerationsprozess war im Westen also dem in den revisionistisch gewordenen sozialistischen Staaten um Jahrzehnte voraus.

Im sogenannten „westlichen Marxismus“ wurde der Marxismus seiner Kernelemente beraubt und zum bloßen Mantel, um abstrakte Sprach- und Kulturtheorien zu verpacken. Allzu oft wird der Marxismus bis heute selbst von Genossen bloß als eine rhetorische Sprachschule verwendet, in welcher eigentlich definierte Begriffe nicht für den vorgesehenen Zweck verwendet werden. Das betrifft beispielsweise die Gleichsetzung des Imperialismus an sich mit den NATO-Staaten, während Russland und China trotz eindeutig imperialistischer Charakteristiken und Gegenblockbildung zur NATO als „nicht-imperialistisch“ gesehen werden. Dies ist sicherlich dem sowjetrevisionistischen Erbe geschuldet, das vor allem in Europa und im Westen allgemein unter Kommunisten bis heute den klaren Blick auf die marxistische Theorie vernebelt.

In den 70ern in einigen K-Gruppen und wieder in den frühen 90ern gab es, wenn auch in kleinerem Maßstab, eine antirevisionistische Rückbesinnung auf die Stalin-Ära. Dem Revisionismus eine Rückbesinnung auf Stalin entgegenzusetzen war richtig und wichtig gewesen. Bei Stalin ideologisch stehenzubleiben, ihn als eine Art „Krönung des Marxismus“ zu betrachten, ist jedoch falsch und lässt uns zurückbleiben. Mao Tsetung strich Stalin nie aus dem marxistischen Kanon, sondern schritt ideologisch voran auf der Grundlage von Marx, Engels, Lenin und Stalin. Die Weiterentwicklung des dialektischen Materialismus durch die Erkenntnis des antagonistischen Widerspruchs war mindestens genauso ein Schub wie Lenins Erkenntnis, dass die Dialektik aus der Einheit der Gegensätze herrührt. Die Konsequenzen daraus haben die politischen, wirtschaften und gesellschaftlichen Lehren des Leninismus und Maoismus bewirkt, den Marxismus weiterentwickelt.

Tony Blair, der später der „britische Schröder“ sein sollte, ist ehemaliger Trotzkist. Im Juli 1982 schrieb er in einem Brief an Michael Foot diese fatale Formel, die typisch ist für westliche Pseudointellektuelle: „Das Problem mit dem Marxismus ist, dass es in Ordnung ist, wenn man ihn sich zum politischen Diener macht, aber schrecklich, wenn er dein politischer Meister wird.“11 Der Marxismus wird dabei bloß zum rhetorischen Stichwortgeber degradiert, gar nicht mehr als umfassende ideologische Weltanschauung verstanden. Man kann auf Tony Blair als Person an dieser Stelle eindreschen, aber darum geht es hier nicht im Kern. Der Kern ist, dass viele Intellektuelle so denken. Sie bedienen sich an verschiedenen Ideologien wie an einem Buffet, betreiben Blütenlese, ohne tiefergehendes Verständnis der Ideologie. Tony Blair ist ein Beispiel für ein solches Symptom. Die sowjetrevisionistischen Intellektuellen waren, wie sich zeigen sollte, im Wesen genauso.

Ein großes Problem, wenn nicht gar einer der Knackpunkte aller Probleme der marxistischen Ideologie, ist, dass diese bis auf den heutigen Tag primär das Metier von Intellektuellen ist. Intellektuelle besitzen aber eine opportunistische Tendenz, wie Mao feststellte12. Sie sind der Arbeiterbewegung angepfropft, nicht aus ihr erwachsen. Dieses Problem macht sich besonders darin bemerkbar, dass K-Gruppen, die hauptsächlich aus Studenten und sonstigen Intellektuellen bestehen, sich extrem schwer tun, Wurzeln im werktätigen Volk zu schlagen. Das ist eine Mischung aus einem unverständlichen Sprachgebrauch, der für die Massen zu abstrakt erscheint, und einem Mangel an Kontakten am Arbeitsplatz und im privaten Umfeld. Das soll nicht heißen, man müsse die marxistische Theorie so vereinfachen, bis sie vulgarisiert ist. Das Problem der Intellektuellen ist aber ihre Distanz zum tatsächlich arbeitenden werktätigen Volk – nicht, weil sie diesem in der Theorie nicht angehören würde, das tun sie nämlich, sondern aufgrund ihrer geistigen Distanz zu den realen Problemen der Arbeiterklasse und der sonstigen Werktätigen.

Darin liegt auch der Grund, wieso die marxistische Bewegung in Deutschland bereits seit Jahrzehnten den ehrenvollen Namen „Arbeiterbewegung“ kaum mehr verdient. Nicht etwa, weil der Marxismus nicht der ideologische Ausdruck der Arbeiterklasse wäre, sondern weil dessen Vertreter sich mehr darum gekümmert haben, in Zirkeln aus Intellektuellen – archetypisch dafür die zig K-Sekten westdeutscher Studenten in den 60er bis 80er Jahren – sich gegenseitig zu bekämpfen.

Das Abgleiten in der Politik fern stehende ideologische Bereiche war in der 68er Zeit sehr ausgeprägt, durch den Einfluss der Frankfurter Schule ausgelöst. Aber nicht nur die Frankfurter Schule hatte dieses Problem. Es ist bekannt, dass Lunatscharski sich mitten im Russischen Bürgerkrieg mehr um das Theater kümmerte als um die Fragen der Volksbildung, wofür Lenin ihn geißelte13. Lunatscharski mag ein ehrlicher Marxist gewesen sein, aber er besaß die typische Intellektuellenkrankheit der Volksfremdheit. Statt sich nämlich mit den anstehenden Problemen des werktätigen Volkes primär zu befassen, lag sein Hauptfokus auf schöngeistigen Dingen, an denen bloß eine kleine intellektuelle Schicht Gefallen finden konnte und Nutzen daran hatte. Der Ästhetik-Kult, die Verwechslung von Ästhetikabhandlungen mit tatsächlicher Ideologie, der 68er-Philosophen ist also nicht ohne historische Vorgänger, ist eine allgemeine Abweichungstendenz, die Intellektuelle hervorbringen können.

Eine ideologische Spaltung etwa, weil eine Gruppierung offensichtlich revisionistische Positionen vertritt, ist gerechtfertigt – etwa früher, als die Sowjetrevisionisten plötzlich Tito-Jugoslawien als „sozialistisch“ ansahen, entgegen vorhergehender Analysen oder wenn es heute um das dengistische China geht, das den Kapitalismus restauriert hat, aber Revisionisten gerade dort „Sozialismus“ erkennen wollen mitten in Marktwirtschaft und Privateigentum.

Etwas anderes sind Spaltungen, bei denen es sich um Scheindebatten handelt, die nur dadurch entstanden sind, dass ideologische Grundlagen oder die nationalen Bedingungen nicht ausreichend begriffen worden sind. Da kämen heutzutage etwa die vielen gonzaloistischen K-Grüppchen in Frage, welche entweder den Begriff „Volkskrieg“ nicht in dem Sinne verwenden, wie er von Mao definiert wurde, oder die materiellen Verhältnisse in Deutschland voluntaristisch ignorieren.

Paul Lafargue hatte sicherlich nicht die Zustände der späteren Jahrzehnte im Auge, als er diese Worte sprach, aber dennoch trifft diese Aussage zu Der Sieg des Sozialismus müßte nicht nur auf das Jahr 2000, sondern an das Ende der Welt verschoben werden, wenn wir ihn auf das Zartgefühl, die tumbe Verschämtheit und die Empfindlichkeit der Intellektuellen aufbauen wollten.“14 Was wir brauchen, ist, dass sich die Werktätigen mit Fragen des Marxismus beschäftigen und die Intellektuellen sich dem werktätigen Volk mehr annähern. Es ist schwerlich möglich unter kapitalistischen Bedingungen etwa wie beim Bitterfelder Weg dafür zu sorgen, dass die Hälfte der Zeit mit sogenannter „einfacher Arbeit“ verbracht wird und die andere Hälfte für Geistesarbeit genutzt wird. Dennoch sollte man wenigstens mehr mit den einfachen Werktätigen reden und versuchen sie zu verstehen. Man sollte ihnen nicht nachtrotten, wo sie falsche Anschauungen vertreten, aber man sollte ihnen nicht wie ein Oberlehrer begegnen, wenn sie einige Begriffe falsch benutzen, sondern versuchen, Inhalte in ihrer Sprache zu vermitteln. Vor allem sollte dies die Intellektuellen erden, damit sie sich nicht mit zu abstrakten Fragen beschäftigen, die an den materiellen und geistigen Bedingungen Deutschlands völlig vorbei gehen.

Aus aktuellem Anlass sollte dies auch erwähnt werden: Erich Fried sprach von einem Typus Intellektueller, der sich darin ausdrückt, gegenüber den Arbeitern der Tonangeber sein zu wollen15. Das bedeutet, dass dieser Schlag von Intellektuellen nach einer Herrschaft über die Arbeiter strebt. Aber nicht nur auf solche plumpe Weise kann man fehlgehen. Erich Fried sprach auch davon, dass der hochgestochene Sprachgebrauch der Intellektuellen sicherlich seine Vorteile besitzt im Hinblick auf die Genauigkeit von Fachbegriffen in etwa, aber dafür Nicht-Intellektuelle effektiv von der Debatte durch Entfremdung von den Massen ausgeschlossen werden16. Erst kürzlich ereignete sich ein derartiger Vorfall, den ich bereits kommentiert habe17. Dazu ist nur noch einmal zu sagen:

Die Intellektuellen sollten sich klarmachen, welcher Klasse sie dienen und sich deren Klassenbewusstsein aneignen. Als Fehlwirte des Marxismus haben sie mit dem Wissensvorschuss den Mangel an Klassenbewusstsein zu kompensieren.

1 A. Cipko „Sind unsere Prinzipien gut?“ In: (Hrsg.) Alexander Litschev/Dietrich Kepler „Abschied vom Marxismus“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 90.

2 Vgl. Ebenda, S. 73.

3 Siehe: Ebenda, S. 116.

4 Ju. F. Visnjakov „Anmerkung über den sowjetischen Marxismus – oder über ideologischen Chauvinismus“ In: Ebenda, S. 172.

5 Vgl. A. F. Zamaleev „Marxismus und Russische Philosophie“ In: Ebenda, S. 273.

6 Vgl. Ebenda, S. 275.

7 Siehe bspw.: A. L. Nikiforov „Wird der Marxismus die Perestrojka überleben?“ In: Ebenda, S. 40 und D. V. „Olsanskij „Die Sozialpsychologie der ´Schräubchen´“ In: Ebenda, S. 177.

8 A. L. Nikiforov „Wird der Marxismus die Perestrojka überleben?“ In: Ebenda, S. 43.

9 Vgl. Plutarch „Große Griechen und Römer“, Anaconda Verlag, Köln 2009, S. 8.

10 Rudi Dutschke „Mein langer Marsch“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 141.

12 Vgl. „Rede vor einer albanischen Militärdelegation“ (1. Mai 1967) In: Mao Zedong „Texte“, Bd. VI.1, Carl Hanser Verlag, München/Wien 1982, S. 266.

13 Siehe: „Fernspruch an A. W. Lunatscharski“ (26. August 1921) In: W. I. Lenin „Briefe“, Bd. VIII, Dietz Verlag, Berlin 1973, S. 147.

14 „Der Sozialismus und die Intellektuellen“ (23. März 1900) In: Paul Lafargue „Vom Ursprung der Ideen“, VEB Verlag der Kunst, Dresden 1970, S. 230.

15 Vgl. Erich Fried „Anmerkungen zu Verhaltensmustern“ In: „Intellektuelle und Sozialismus“, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1968, S. 57.

16 Vgl. Ebenda, S. 64/65.

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