Zeiten ändern sich

Ein Kommentar zum Buch „Rethinking Socialism“ anlässlich des 30. Jahrestages der Auflösung der Sowjetunion.

Zur Wendezeit, als die revisionistischen Staaten den Kapitalismus vollständig restaurierten, herrschte große Resignation vor. Die sozialistische Bewegung geriet ideologisch in völlige Verwirrung über das, was den Sozialismus ausmacht. Die Mehrheit der Älteren hat sich bis heute nicht erholt und ist von revisionistischen zu offen sozialdemokratischen Positionen übergegangen. Es gibt aber auch positive Beispiele, wie das der Auslandschinesin Pao-yu Ching.

Bei Pao-yu Ching kann man sehen, wie sich ihre Anschauungen der letzten 30 Jahren vom Saulus zum Paulus entwickelten. Zusammen mit Deng-yuan Hsu schrieb sie in „Rethinking Socialism“: „Leider ist die erste Welle des versuchten Aufbaus des Sozialismus gescheitert. Wir müssen von ihren wertvollen Erfahrungen lernen, weil Tausende von Millionen die Aufgabe in der Zukunft wiederaufnehmen werden. Der Sozialismus ist nict gescheitert, weil wir seine Schwelle noch nicht überschritten haben.“1 Diese Schlussfolgerung bedeutet, dass der Sozialismus nirgends erreicht worden sei. Damit wäre der Revisionismus fein raus, der den Sozialismus von innen zerstörte. Die damalige Analyse war der damaligen Zeit entsprechend defätistisch geprägt.

Pao-yu Chings heutige Schriften sind inhaltlich deutlich besser. Die Frustration der Wendezeit führte bei ihr zu Kurzschlussantworten. Mit etwas Abstand zu den Geschehnissen des untergehenden Revisionismus und in der Zwischenzeit veröffentlichten Materialien gelangte sie zu anderen Schlussfolgerungen als damals. Im Jahre 2017 schrieb sie im hinzugefügten Vorwort: „Als mein Koautor und ich ´Rethinking Socialism´ schrieben, folgerten wir: „Leider ist die erste Welle des versuchten Aufbaus des Sozialismus gescheitert.“ Ich glaube nicht länger daran. Vielmehr bin ich zum Verständnis gekommen, dass die Versuche des Aufbaus des Sozialismus nicht gescheitert sind, sondern besiegt wurden.“2 Pao-yu Ching änderte ihre Meinung aufgrund von Fakten, die sie später recherchierte.

Man muss bei eigenen Werken stets den zeitlichen Kontext beachten. Pao-yu Ching tut das. Kurt Gossweiler tat das bei seiner Schrift über KPD und SPD in der Weimarer Republik3 nicht und korrigierte somit nie seine falsche Sichtweise auf die Frage des Sozialfaschismus4. Ein gesundes Maß an Selbstreflexion hilft bei der Behebung eigener Fehler.

Der Fall von Pao-yu Ching zeigt, dass die Resignation der frühen 90er Jahre überwindbar ist. Während vor 30 Jahren aufgrund des vorherrschenden Revisionismus vor lauter Bäumen keiner den Wald sah, somit keiner den Revisionismus als den Zerstörer der sozialistischen Gesellschaftsordnung ansah, wird bei genauerem Hinsehen das Bild schärfer.

Der Sozialismus ist nicht gescheitert, sondern wurde durch den Revisionismus besiegt – zumindest vorerst. Sehen wir zu, dass es in Zukunft nicht noch einmal dazu kommt.

1 Deng Yuan-hsu/Pao-yu Ching „Rethinking Socialism“, Foreign Languages Press, Utrecht 2017, S. 115, Englisch.

2 Pao-yu Ching „Vorwort“ (12. Juni 2017) In: Ebenda, S. 8, Englisch.

3 Siehe: „Zur Strategie und Taktik von SPD und KPD in der Weimarer Republik“ In: Kurt Gossweiler „Wie konnte das geschehen?“, Bd. II, KPD/Offen-siv, Bodenfelde 2017, S. 6 ff. Gossweiler fügte 1986 und 2001 zu dem von 1957 stammenden Text Vorworte hinzu, aber ohne den Inhalt zu überprüfen, wie es Pao-yu Ching in ihrem Fall tat.

4 Gossweiler behauptete, den Sozialfaschismus habe es nie gegeben. Siehe zu der Thematik: https://www.die-rote-front.de/wie-real-ist-der-sozialfaschismus/ 

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